Erinnerungen werden wach
Bei der letzten WM-Barrage mussten wir durch die Hölle

Mit Schrecken erinnern wir uns an die Schand-Nacht von 2005. Im Sükrü-Saraçoglu-Stadion von Istanbul erlebt die Nati einen Höllenritt. Bei der Massenschlägerei im Spielertunnel erwischt’s Grichting am schlimmsten. Der Walliser spürt den Tritt in die Genitalien bis zum heutigen Tag.
Publiziert: 11.10.2017 um 10:40 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 01:57 Uhr
So heftig waren die Ausschreitungen in Istanbul
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Legendäre WM-Barrage:So heftig waren die Ausschreitungen in Istanbul
Max Kern (Text) und Toto Marti (Fotos)

«Sperrt diese Prügel-Türken!», titelt BLICK. Und schreibt: «Wurfgeschosse! Tritte! Schläge! Schweizer Spieler im Spital!» Auf dem Titelbild sieht man die Nati-Spieler Johann Vogel, Alex Frei und Tranquillo Barnetta, die sich in gebeugter Haltung mit angsterfüllten Blicken Richtung Spielertunnel zu retten versuchen. Nati-Coach Köbi Kuhn, offensichtlich von einem Gegenstand getroffen, tastet in gebückter Haltung seinen Kopf nach Blut ab.

Die Schlagzeile im Sportteil am 17. November 2005 lautet: «Höllenritt in den WM-Himmel!» Es ist der Tag nach der Schand-Nacht von Istanbul. Prügel-Opfer Stéphane Grichting (38) erinnert sich heute noch schmerzlich daran. Beim Pinkeln. Und beim Liebemachen. Grichting unlängst zu BLICK: «Ich habe oft Schmerzen. Diesen Tag werde ich nie mehr vergessen.»

Der verhängnisvolle 16. November. Mit Polizeischutz werden wir Schweizer Journalisten ins Stadion geleitet. Einige werden auf dem Weg von Farbbeuteln getroffen.

Schweizer Fans werden von türkischen Sicherheitsleuten mit Farbkübeln übergossen und mit Ablaufrinnen beworfen. Von der Nationalhymne hören wir nichts, zu gellend sind die Pfiffe der türkischen Fans. Ein Rache-Akt, weil beim Hinspiel vier Tage zuvor in Bern beim Abspielen der türkischen Hymne vereinzelte Pfiffe zu hören waren.

22.12 Uhr Ortszeit. 98 Minuten sind vorbei, Ref De Bleeckere pfeift ab. Die Schweiz qualifiziert sich nach dem 2:0 von Bern mit einer 2:4-Niederlage dank der Auswärtstor-Regel für die WM 2006.

Feiern? Fehlanzeige! Denn Nati-Coach Fatih Terim, Übername «Imperatör», hetzt seine Ersatzspieler wild gestikulierend in die Schlacht. Er sinnt nach Rache! Von den Rängen hagelt’s Münzen, Feuerzeuge und Billig-Uhren.

Grichting: «Ich sass auf der Ersatzbank. Die war auf der gegenüberliegenden Seite der Garderoben. Der Weg bis zum Spielertunnel war lang.» Valon Behrami, beim 2:0-Hinspiel-Sieg neben Philippe Senderos der zweite Torschütze, wird wiederholt von Gegenständen am Kopf getroffen. Er hält sich schützend den rechten Arm vors Gesicht. Auf seiner Flucht Richtung Kabine wird er von einem türkischen Betreuer unsanft gebremst. Physiotherapeut Mehmet Özdilek stellt dem Tessiner ein Bein. Der ebenfalls flüchtende Benjamin Huggel sieht die Szene und rächt seinen Kumpel. Er trifft Özdilek mit einem gezielten Tritt in den Hintern.

Massenschlägerei im Spielertunnel

Jetzt gehts richtig los. Özdilek verfolgt Huggel, erreicht ihn kurz vor dem Spielertunnel und versetzt dem Basler einen Kung-Fu-Tritt in den Rücken. Gleich daneben wird Huggels Kumpel Marco Streller vom Türken Alpay getreten. Huggel packt sich Alpay. Im Spielertunnel kommts zu einer Massenschlägerei. Auch die türkischen Sicherheitskräfte und Polizisten mischen sich ein.

Goalie-Trainer Erich Burgener ist ebenfalls mittendrin. Er will für Gerechtigkeit sorgen, weil der türkische Goalie Volkan Nati-Coach Köbi Kuhn attackiert hat. Der Oberwalliser: «Plötzlich schlugen Ordner und Security-Leute auf mich ein. Ich dachte, meine Hüftprothese sei entzwei.»

Streller: «Alpay schlug wie im Blutrausch zu.»

Ein Kamera-Mann der ARD, der die Jagd-Szenen filmen will, wird niedergeschlagen. Philipp Degen unterbricht vor der Garderobe ein Interview mit dem ZDF und eilt Huggel zu Hilfe.

Grichting: «Ich kam als Letzter im Tunnel an. Da war die Sache schon voll am Laufen. Ich versuchte, meine Kollegen Richtung Garderobe zu schieben. Da passierte es. Ich bekam von hinten einen Schlag zwischen die Beine. Es tat höllisch weh. Ich blutete.»

Huggel erinnert sich: «Auch unter der Dusche verlor Stéph Blut.»

Grichting wird in der Garderobe ein Katheter gesetzt. Er wird ins Spital gefahren. Dort erhält er die Diagnose Harnleiter-Riss. Immer noch mit Katheter zwischen den Beinen kommt Grichting in den frühen Morgenstunden im Team-Hotel an. Im ersten Untergeschoss sitzen Zuberbühler, Vogel, Cabanas & Co. an der Bar. Feier-Stimmung kommt nie auf.

Schikane beginnt am Flughafen

Schon bei der Einreise vor dem Barrage-Spiel geht’s mit den Schikanen los.

Um 14.46 Uhr landet der Swiss Airbus A330 auf dem Flughafen Istanbul-Atatürk. Die Provokationen der Türken gehen los. «Ich bin seit 1967 dabei», sagt Nati-Physio Fredy Häner damals, «aber so etwas habe ich noch nie erlebt, nicht einmal hinter dem Eisernen Vorhang.» Statt das Gepäck der Schweizer auszuladen, stehen die Flughafen-Arbeiter im Fingerdock Frei & Co. Spalier, schreien «Türkiye! Türkiye!» Sie halten Transparente hoch. «Welcome to Hell», willkommen in der Hölle. Der blanke Hass.

Bei der Passkontrolle sagt Nati-Coach Köbi Kuhn bald: «Das ist alles von oben gesteuert. Für ein paar Kröten findet man immer Leute, die Radau machen.» Der Name von Frei, der sich im Hinspiel mit Terim gezofft hat, steht auf einer schwarzen Liste. 31 (!) Minuten lang blättert der Zollbeamte in Freis Pass.

Beim Gepäckband zischt ein Türke Mittelfeldspieler Ricci Cabanas an: «Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben. Aber erst nach dem Spiel.»

121 Minuten nach der Landung treten die Spieler in die Ankunftshalle, erwartet von gegen 400 hasserfüllten türkischen Fans. «Fuck you, Switzerland», steht auf einem Transparent. «Hurren Son Frei», «Ich ficke Eure Mutter», «Das ist Istanbul, da kommt ihr nicht mehr raus.»

135 Minuten nach der Landung setzt sich der Bus mit der Nati endlich Richtung Fünf-Sterne-Hotel Kempinski in Bewegung. Auf dem Weg zum Bosporus fliegen Eier, Tomaten und auch ein paar Steine an die Scheiben des Cars.

Das Training wird aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was in der Schand-Nacht von Istanbul noch alles passieren sollte.

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