Wir schreiben den 15. Februar 2009. Ein ganz normaler Super-League-Sonntag. Der FC Luzern empfängt YB auf der Sportanlage Allmend (heute Swissporarena) und holt sich die erste Niederlage im neu angebrochenen Jahr. Dies, obwohl die Innerschweizer erst 2:0 in Führung liegen. Ein Tag zum Vergessen also.
Nicht für alle. Mittendrin feiert der erst 19-Jährige Lior Etter sein Debüt, inklusive Assist nach nur elf Minuten. Sein erster wird auch sein letzter Skorerpunkt in der Super League sein … Fast 7000 Kilometer entfernt, im kleinen indischen Bundesstaat Goa, hören sich Morris und Basil, Liors Brüder, die Übertragung der Partie am Strand an. Aufgesprungen seien sie nach dem Assist ihres Bruders. «Das Holztischli mit den Drinks drauf ist regelrecht durch die Luft geflogen», erzählt Morris Etter heute und lacht.
Das hat Lior immer weiter vom Fussball weggetrieben
SonntagsBlick besucht Lior und Morris Etter kurz vor Weihnachten in ihrem geräumigen Büro ihrer Non-Profit-Organisation Wasser für Wasser, kurz WfW, mitten in Luzern. Mit unternehmerischen Ansätzen treiben die beiden Brüder und ihre Teams in der Schweiz, Mosambik und Sambia den zukunftsorientierten und fairen Umgang mit Wasser voran und finanzieren die Ausbildung von Fachleuten vor Ort (siehe Box). Da verwundert es nicht, dass auch ihr Arbeitsplatz in einem Touch Afrikas daherkommt. Viel Holz, Pflanzen und von Lior geschossene Bilder ihrer Afrika-Aufenthalte zieren die Räume.
Anders als einige seiner ehemaligen Teamkollegen, wie FCB-Star Valentin Stocker beispielsweise, ist Lior seit über einem Jahrzehnt nicht mehr auf dem Fussballplatz anzutreffen. 2010, mit nur 20 Jahren, trat der als damals grosses Fussballtalent geadelte Innerschweizer zurück. «Für wen trage ich diesen Druck? Für welches Ziel?», fragte sich Lior damals. Die Fussball-Bubble wirft ihm mangelnden Ehrgeiz und zu wenig Biss vor. Dabei sind es in erster Linie die unterschiedlichen Interessen, die ihn immer weiter vom Fussball weggetrieben haben. Die Etters-Brüder kommen aus einem sehr kulturinteressierten Haus. Die Eltern haben sich an der Kunsthochschule kennengelernt. Der Vater arbeitet bis heute als Künstler.
Der Schicksalsschlag
Sich für ein nachhaltiges Ziel einsetzen und dabei Mehrwerte für andere generieren – das wollten Lior und sein Bruder Morris, der die Fussballschuhe bereits nach seiner Juniorenzeit an den Nagel gehängt hatte.
Doch erst ein schlimmer Schicksalsschlag führt die beiden schlussendlich zu ihrer Berufung. Basil, wie seine Brüder fussballbegeistert, stirbt 2011 an Leberkrebs. «Sein Tod hat uns in existenzielle Fragen hineingezwungen», sagt Lior. Um das Erfahrene zu verarbeiten und in ihr zukünftiges Leben zu integrieren, gehen Morris und Lior auf Weltreise. Sie brauchen Raum. Viel Raum. Es zieht sie unter anderem nach Indien, genauer gesagt an den Strand von Goa. Dorthin, wo Morris und Basil einst Liors Debüt feierten. Und: Wo zwei Jahre später die Idee für WfW geboren wird.
Basil hatte die beiden einst nach Indien geführt und mit der Faszination für das Land angesteckt. «Für ihn war Indien in seiner Vielfalt dazumal eine lebensverändernde Entdeckung», erzählen die Brüder. Indien wird zu einem «wichtigen Kraftort» für sie – bis heute. Weshalb «spielt» WfW unter diesen Umständen denn nicht in Indien? «Nach ein paar Monaten des Austauschs mit indischen Organisationen hat uns das Land die Grenzen aufgezeigt», so Morris. «Wir wollten uns in diesem riesigen Land als kleine Organisation nicht überfordern.»
Als Auslöser und Ankurbler, wenn auch nicht von dieser Welt aus, ist Basil im Projekt stets mit von der Partie. Ein von ihm kreierter Siebdruck ziert das Logo von WfW. Ein Junge, der im Monsunregen aus Freude zum Rückwärtssalto antritt oder «im Aufbruch ist», wie es Lior formuliert.
Verbindung zu diesen Fussball-Stars
Wasser für Wasser feiert 2022 das Jubiläum ihres zehnjährigen Bestehens. Um die eigene finanzielle Bereicherung ging es den Etters nie. Obwohl sie mit WfW bereits knapp zehn Millionen Schweizer Franken an Spendengeldern umsetzen konnten, sind die Löhne für die Brüder und ihre Mitarbeitenden sehr bescheiden. Gesteuert vom Herzen und stets optimistisch sind sie damit aber mehr als zufrieden. «Ich bin ein extrem reicher Mensch», beteuert Lior, Vater eines zweijährigen Sohnes. «Ich habe schon so viel erlebt, so viele Länder bereisen, so viele Menschen kennenlernen und so schöne Strände sehen dürfen.» Und auch die Verbindung in die Welt des Fussballs bleibt bestehen: So engagieren sich unter anderen YB-Captain Fabian Lustenberger, Ex-Nati-Star Tranquillo Barnetta, Liors langjähriger Freund Valentin Stocker sowie Ex-Premier-League Star Timm Klose aktiv für WfW.
Und vielleicht führt ja eines Tages Liors Sohnemann sein Fussballer-Leben weiter. Die Begeisterung sei bereits offensichtlich. «Er spielt ständig mit dem Ball», erzählt der Ex-FCL-Kicker. «Und wissen Sie, was eines seiner erstens Worte war? Tschutte.» Wenn das nicht nach einer Neuauflage des Etter-Märchens klingt.