Es ist das Jahr 1971, als Alice Kuhn ihrem Köbi eine Tochter schenkt. Das Ehepaar tauft das Mädchen Viviane. «Vor allem als sie noch sehr klein war, verbrachte ich jede freie Minute mit ihr, brachte sie in den Kindergarten, zum Arzt», sagt der Ex-Nati-Coach der «Schweizer Illustrierten».
Schon in Teenager-Tagen aber kommt Viviane mit Drogen in Berührung. In seiner Autobiografie (erscheint heute) schreibt Kuhn: «Die ersten Probleme mit Viviane äusserten sich schon in ihren Teenagerjahren. In der Schule hatte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Die mathematischen Fächer fielen ihr schwer. Sie fühlte sich von den Lehrern blossgestellt und begann sich abzugrenzen, anders zu kleiden. Weil sie sich unverstanden und wenig beliebt wähnte, suchte sie Halt bei neuen ‹Freunden›, die zwei, drei Jahre älter waren.»
«Zu der Zeit war es irgendwie angesagt, Drogen zu probieren. Die Szene hat den jungen Leuten imponiert, und sie kamen leicht an das Zeug ran. Mit 14 hat meine Tochter das erste Mal gekifft. Aus Neugierde wurde regelmässiger Haschischkonsum. Dann schnupfte sie Koks und Heroin, eine Zeit hat sie auch gespritzt. Ich sehe ihre ersten, frühen Kontakte mit den Drogen als Rebellion gegen unser Zuhause und die Gesellschaft …»
Köbi versucht mit ihr zu reden, engagiert einen Familientherapeuten. Doch Viviane will sich weder an die Schulzeit halten noch den Tagesablauf haben, den es für eine Lehre braucht. «Sie schlitterte immer weiter in diesen selbstzerstörerischen Sumpf. Sie hat mir vorgeworfen, ich hätte kein Verständnis für sie, sei immer weg gewesen», sagt Köbi. «Sie glaubte, meinen Ansprüchen nie zu genügen. Dabei wollte ich einfach meine Tochter lieb haben. Sie hat mir oft versichert, sie werde sich bessern, habe alles im Griff. Und ich wollte ihr so gern glauben. Irgendwann musste ich kapieren, dass das naiv von mir war.»
«Teilweise wurde sie in einer Arrestzelle verwahrt»
Kuhn schreibt in seinem Buch: «Zuerst habe ich leider gar nicht kapiert, wie sehr sie sich verrennt, dass das der Anfang einer tragischen Entwicklung sein sollte. Alice und ich haben wieder und wieder versucht, mit ihr zu reden. Doch keine Aussprache hat gefruchtet. ‹Wir Kinder vom Bahnhof Zoo› hatte sie zu ihrer Bibel auserkoren. Diese Berliner Drogengeschichte hat sie fasziniert. Wir hatten immer weniger Zugang zu ihr. Manchmal musste ich sie in der Nacht suchen gehen, weil sie nicht nach Hause kam.»
Und fügt dann ein erschütterndes Beispiel an: «An einmal erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen: Es lag auf der Hand, dass sie sich auf dem Zürcher Platzspitz, dem Platz für Drogensüchtige, aufhielt. Ich fuhr los, um sie zu holen, und habe sie tatsächlich dort gefunden. In der Wut habe ich ihr die Drogen weggenommen, alles zertrampelt und in die Limmat geworfen. Deswegen war sie mir lange böse. Doch nicht einmal dieser Streit hat sie zur Vernunft gebracht, sondern unser Zusammenleben noch mehr belastet. Zum Glück war sie nicht sehr oft an den einschlägigen Orten – am Letten und am Platzspitz.»
Kuhn verschafft ihr einen Job bei der Fifa, den sie nach wenigen Tagen hinschmeisst. Köbi weiter: «Als sie wegen Beschaffungskriminalität im Gefängnis sass, beleidigten sie die Vollzugsbeamten: Sie mache mir Schande.»
Kuhn erzählt offen: «Aus dem Bezirksgefängnis Zürich schrieb sie uns verzweifelte Briefe, in ihrer kindlichen Schrift, die mir fast das Herz brachen. Teilweise wurde sie in einer Arrestzelle verwahrt, ihr ging es körperlich schlecht, und sie haderte mit der Langeweile, der Sinn- und Hoffnungslosigkeit. ‹Ich verhirne 24 Stunden lang Probleme›, sagte sie. Wenigstens kam sie an dem Ort nicht an Drogen – sie bekam Methadon als Ersatz, spürte aber den Entzug deutlich. ‹Ich bin total auf dem Aff›, schrieb sie uns in schlaflosen Nächten, ihre Schrift verwackelt, wenn es sie wieder schüttelte. Kleine Arbeiten, zum Beispiel Kuverts falzen, brachten ihr ein paar Franken am Tag ein, für die sie sich Zigaretten kaufte. ‹Also arbeiten werde ich hier, denn es ist nicht besonders kurzweilig›, meinte sie.»
Viviane fleht ihren Vater unter Tränen an: «Ich halte es nicht mehr aus. Bitte Papi, hilf mir! Hol mich hier raus!». Kuhn: «Das brachte mich das an die Grenzen des seelisch Erträglichen.»
Tod mit 46 Jahren
1994 verurteilt das Gericht Viviane zu zwölf Monaten Gefängnis. Sie bewahrte mehrfach unbefugt Betäubungsmittel auf, vermittelte es, versteckte es vor der Polizei. «Dafür hatte sie jeweils Kokain oder Heroin als Provision erhalten. Sie konsumierte täglich Drogencocktails.»
Am 14. Mai 2018 stirbt Viviane, mit 46 Jahren. Vier Jahre nach seiner Frau Alice hat Köbi auch noch sein einziges Kind verloren. «Aufgrund ihrer Erfahrungen mit unserer Tochter wollte Alice auch keine weiteren Kinder. Also habe ich mich recht bald ihr zuliebe unterbinden lassen», schreibt er. «Ich spüre, dass ich diesen Schmerz nie mehr loswerde.»
Der Alkohol führte zu Vivianes Tod. Kuhn in seiner Autobiografie: «Sie hatte eine Leberzirrhose; dabei vernarbt und verhärtet sich die Leber. Ihre war am Ende hart wie ein Stein, sodass das Blut nicht mehr durch das Organ fliessen konnte. Das Blut hat sich einen anderen Weg gesucht, durch die Speiseröhre. Der Leberschaden führte zu Krampfadern in der Speiseröhre. Diese erweiterten, sehr dünnwandigen Venen können leicht einreissen, was bei ihr passierte. Sie hat Blut gespuckt. Jeder Schluck Alkohol hat sie dem Tod ein Stück näher gebracht.»
Und weiter: «Die Polizei fand meine Tochter tot in ihrer Wohnung. (...) Die Obduktion ergab, dass sie zwischen 12 Uhr am Samstag, 12. Mai, und 12 Uhr am Montag, 14. Mai 2018, gestorben ist. Später wurde als Todestag der 14. Mai festgelegt. In der Küche lagen zahlreiche Einkaufszettel, auf jedem Einzelnen fand sich ein Posten mit billigem Wodka. Vier leere Flaschen standen herum. Ihr Tod hat ein riesiges Loch in mein Herz gerissen.»
Am 23. Mai 2018 wird Viviane im Familiengrab neben ihrer Mutter auf dem Friedhof Sihlfeld beigesetzt. In der Todesanzeige wählen Köbi und seine Geschwister eine Gedicht von Rilke. «Wenn ihr an mich denkt, denkt an die Stunde, in der ihr mich am liebsten hattet.»