Interview mit Frankreich-Coach Didier Deschamps
«Man ist auf dem Dach der Welt»

Frankreichs Nati-Coach Didier Deschamps sieht Migrationshintergründe nicht als Problem, sondern als Bereicherung. Eine Heim-EM löst für den Basken nicht Druck aus, sondern Adrenalin. Das grosse Interview.
Publiziert: 11.06.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 17:55 Uhr
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Didier Deschamps: Der 47-Jährige steht seit 2012 bei den Franzosen an der Seitenlinie.
Foto: AP Photo
Alain Kunz aus Paris

Herr Deschamps, am Freitag gehts los. Rumänien wartet. Wie sehen Sie das Eröffnungsspiel?

Didier Deschamps: Genau als das, was es ist: ein Eröffnungsspiel. Und deshalb speziell. Das Spiel ist nicht entscheidend, aber sehr wichtig. Es kann uns lancieren. Für mich war dieser 10. Juni immer das Ziel. Seit zwei Jahren denke ich an diesen 10. Juni. Die letzten Wochen verliefen allerdings alles andere als harmonisch. Zuerst der Dopingfall Sakho, dann ein Verletzter nach dem anderen. In meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht ausmalen können, was da alles passiert ist.

Sind Sie als Trainer jemals solchen Problemen begegnet?
Das sind doch keine Probleme. Ich habe nie Probleme. Das sind Dinge, für die es gilt Lösungen zu finden. Möglichst die Besten.

Und dann zum Dessert noch die Rassismusvorwürfe von Eric Cantona und Karim Benzema.
Dazu äussere ich mich nicht.

Haben Sie Ihre Startformation schon im Kopf?
Seit einem Weilchen schon.

Es dürfte aber kaum dieselbe sein wie vor einem Monat?
Logisch nicht, wenn mit Varane, Sakho und Debuchy drei der vier Stammverteidiger ausfallen. Jetzt zahlt es sich aus, dass wir in den letzten beiden Jahren ausgiebig getestet haben.

Ihr wichtigster Spieler ist aber Paul Pogba. Wie sehen Sie ihn?
Man erwartet sehr viel von ihm. Er hat überdurchschnittliche Qualitäten. Auch er macht nicht alles richtig. Aber es überwiegt natürlich das sehr Gute! Er ist noch sehr jung, 22. Ich erwarte von ihm nicht drei Tore in jedem Spiel. Dass er entscheidend ist aber sehr wohl. Ich habe Vertrauen, kann aber sehr hart sein zu ihm. Das ist dann aber immer zu seinem Besten.

Im Gegensatz zur EM 1984 mit Platini und zur WM 1998 und EM 2000 mit Zidane geht ihnen der grosse Superstar ab.
Platini und noch mehr Zidane sind erst durch diese Endrunden zu dem geworden, was sie sind. Vielleicht wird einer meiner Spieler nach der Euro auch in diesen Status erhoben. Zidane war ein grosser Spieler vor 1998. Danach wurde er ein sehr grosser Spieler.

Welche Spieler der Schweiz sähen Sie gerne in Ihrem Team?
Eine originelle Frage… Das sind die kleinen Journalisten-Spielchen, die den Lesern sicher gefallen. Aber ich gehe nicht darauf ein. Es ist schon schwierig genug die Wahl unter jenen Spielern zu treffen, die ich selektionieren darf. Also wenn da noch eine fiktive Wahl hinzukommt…

Okay, dann kehren wir den Spiess um. Damit müssen sie sich befassen. Welchen Schweizer Spieler fürchten Sie am meisten?
Ich muss alle respektieren. Die Hauptstärke der Schweiz ist aber ein solides Kollektiv. Eingespielt, geordnet. Dieses Kollektiv müssen wir als erstes in Betracht ziehen. Was uns nicht daran hindern wird, wie vor jedem Spiel, die Charakteristika jedes Spielers unter die Lupe zu nehmen.

In der Schweiz Nati gibt es Diskussionen um «richtige» Schweizer und solche mit Migrationshintergrund. Wie lösen Sie solche Probleme in Ihrer Mannschaft?
Ich weigere mich, dies als «Problem» anzuschauen. Auch wenn die Frage in der Politik und im Sozialbereich oft diskutiert wird. Ich schätze, dies ist ein Reichtum unseres Fussballs, dass wir auf Spieler von solch unterschiedlicher Herkunft zählen können. Wir ernähren uns, bereichern uns an solcher Diversität. Die Spieler harmonieren sehr gut miteinander – auf dem Feld und im Leben in der Gruppe.

Ein anderes Problem der Schweiz: Viele Spieler kommen in ihren Klubs nicht regelmässig zum Einsatz.
Da stellt sich immer die gleiche Frage: Haben Sie sich erholen können und sind frisch? Dann kann es sogar ein Vorteil sein. Oder geht ihnen der Rhythmus ab? Was überwiegt? Das kommt immer auf den Einzelfall an. Es muss nicht a priori ein Nachteil sein.

Wie erklären Sie sich, dass mit François Moubandje und Gelson Fernandes bloss noch zwei Schweizer in der Ligue 1 spielen, was früher ganz anders war, dafür stellt die Schweiz mittlerweile die Ausländerfraktion Nummer eins in der Bundesliga?
Es gibt immer solche Perioden für die Migration von Spielern. In Frankreich waren es nach dem Krieg vor allem Italiener, die kamen, dann Polen. Später spielten enorm viele Franzosen in Italien. Nun ist es England. Man kommt, man geht. Das wird auch für die Schweiz gelten. Was in diesem Zusammenhang wichtig ist für uns: Wir können mit den anderen grossen Fussballnationen finanziell nicht mithalten, speziell England. Die Ausnahme Paris St-Germain bestätigt die Regel. Aber wir sind und bleiben im Vergleich mit den ganz grossen Nationen ein Ausbildungsland.

Wen sehen Sie als EM-Favoriten?
Alle teilnehmenden Länder… Zumindest wollen alle so weit wie möglich kommen. Wirklich schaffen können es Spanien, Belgien, Deutschland, Italien, England und Frankreich. Aber die Unterscheide sind minim geworden. Früher spielten die Spieler kleiner Nationen in ihrem eigenen Land, heute auch im Ausland.

Es scheint, als hätten Sie es geschafft, echten Teamgeist in Ihre Mannschaft zurückgebracht zu haben. Wie haben Sie das angestellt?
Man soll nicht immer nur die schlechten Dinge sehen. Alle sind stolz, dieses Trikot tragen zu dürfen. Nehmen Sie den letzten Weltmeister, Deutschland. Die haben wohl starke Spieler. Aber den Titel holten sie wegen ihres Teamgeists. Aber es ist wahr: In der Geschichte Frankreichs gab es penible, ja sehr penible Momente. Ich war auch zwei Mal im Team, als wir uns nicht mal qualifizieren konnten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich versuche ein Vertrauensverhältnis zu den Spielern herzustellen. Ihnen aber auch mal klar zu sagen, was nicht geht. Damit der einzige Star das Team ist. Diese kollektive Stärke muss sich entwickeln, auch wenn individuelle Leistungen am Ende des Tages entscheiden werden. Aber in einem kollektiven Rahmen.

Der penibelste Moment war wohl die WM in Südafrika 2010?
Es war ein Desaster. Genau das!

Wie halten Sie es mit Regeln für Social Media und so?
Bei mir ist alles erlaubt. Ich kann das doch nicht verbieten! Ich kann doch nicht Freiheiten beschränken, die zur heutigen Welt gehören. 1998 hatte uns Trainer Aimé Jacquet das Zeitungslesen verboten. Zumindest versuchte er es. Denn wir lasen die Zeitungen jeden Tag!

Schauen wir uns die Gruppe A mal an. Rumänien, Albanien, die Schweiz. Die französische Öffentlichkeit hat gejubelt über die leichte Gruppe. Und Sie?
Das ist einzig die Einschätzung von Journalisten und Fans. Nichts ist einfach! Schon viele grosse Teams sind in vermeintlich leichten Gruppen ausgeschieden. Das war auch in der Qualifikation so. Klar hätten wir Teams mit grösserem internationalen Renommee erwischen können. Nehmen wir die Schweiz: Auch wenn es beim 5:2 in Brasilien sehr gut lief für uns – ich weiss genau, was die können. Oder Albanien. Wir waren in der EM-Quali in der deren Gruppe – und haben in sie in beiden Spielen nicht schlagen können. Und auch Rumänien ist nicht zufällig an der Endrunde. Wir müssen also Demut an den Tag legen. Aber klar ist: Ein Scheitern in der Gruppe wäre für Frankreich eine gewaltige Enttäuschung!

Apropos WM in Brasilien: Wie hat sich die Schweizer Mannschaft seither verändert?
Damals hiess der Trainer Hitzfeld, nun Vladimir Petkovic… Es gibt natürlich immer Unterschiede, wenn ein neuer Trainer kommt. Die Spieler sind aber im Grossen und Ganzen dieselben. Und die haben eine sehr gute WM in Brasilien gespielt. Ausser gegen uns…

Auf Ihnen und Ihrem Team wird der Druck der ganzen Nation lasten. Wie gehen Sie damit um?
Druck ist negativ. Es ist mehr Adrenalin. Es sind mehr Dinge, die uns erlauben müssten, über uns hinauszuwachsen. Aber ich bin nicht mehr Spieler. Da hat jeder einen anderen Charakter, nimmt die Medien und das ganze Drumherum anders war. Viele spielen aber in Topklubs, bei denen schon ein Unentschieden eine Katastrophe ist. Klar ist die Erwartungshaltung gross, weil wir bei uns spielen. Es muss für uns eher ein Trumpf sein denn etwas negativ Belastetes und Belastendes.

Kann es auch so etwas wie einen Heimnachteil geben?
Der Ausrichter hat nicht immer gewonnen. Sogar meistens nicht. Es liegt an uns, es zum Vorteil zu machen, indem wir viele Spiele gewinnen. Dann steht das Volk hinter dir. Erst dann. Das war auch 1998 so. Ich bin sicher: Es ist kein Nachteil.

So wie an der WM 1998, als Sie den Pokal als Captain in die Höhe stemmen durften. Was war das für ein Gefühl?
Das war das Privileg, das ich als Captain hatte. Es gibt nichts Schöneres als im eigenen Land Weltmeister zu werden. In solchen Momenten hat man den Wunsch, die Zeit anhalten und einfrieren zu wollen. Man ist auf dem Dach der Welt!

Fakt ist aber: Frankreich hat acht der neun Länderspiele seit September 2015 gewonnen. Das untermalt die Favoritenrolle auch statistisch.
Schön, dass Sie mich daran erinnern! Das geht manchmal fast vergessen... Gut, dass es dann und wann erwähnt wird. Unsere Offensivkraft verführt. Das hilft, die Fans zu erobern. Dieses Team hat Charme. Ich denke, die Franzosen mögen sie. Mit der Offensivkraft dieser Mannschaft sind wir in der Lage, etwas Verrücktes auf den Platz zu zaubern.

Die Nummer eins von Europa ist im Moment aber Belgien, zu Recht?
Belgien hat sehr viel Qualität! Die sind schon sehr stark. Viele erfahrene Spieler, die in ganz grossen Klubs spielen wie Fellaini, Witsel, Nainggolan. Aber auch viele sehr starke Junge wie De Bruyne, Hazard, Lukaku oder Carrasco, die schon bei Topklubs engagiert sind. Ich mag Trainer Marc Wilmots, wir kennen uns gut. Ich denke, Belgien gehört nicht zum engsten Favoritenkreis, ist aber ein äusserst interessantes Team.

Sie haben bereits die 23 Spielernamen bekanntgegeben, die an der Euro sein werden. Ein Name fehlt für uns Aussenstehende eher überraschend: jener von Franck Ribéry.
Ich habe nie an ihn gedacht. Er hat dem Nationalteam viel gebracht. Bevor ich Trainer war, auch danach – und dann ist er zurückgetreten. Danach gehörte mein Vertrauen anderen Spielern, die mir das zurückgezahlt haben.

Wie schwer wiegt das verletzungsbedingte Out von Abwehrchef Raphael Varane?
Das ist natürlich ein schwerer Schlag! Aber mit Adil Rami habe ich einen äusserst guten Ersatz, der mit Sevilla eine tolle Saison gespielt hat – und auch schon 25 Länderspiele gemacht hat.

Wie haben sie die Pariser Anschläge vom letzten November erlebt?
Ich habe sie als tragischen Moment verbunden mit starken Emotionen erlebt. Das wird bei mir immer eingraviert bleiben. Auch wenn man immer weniger daran denkt, je mehr die Zeit vergeht. Ich hoffe, sowas passiert nie mehr. Egal wo. Aber ein Restrisiko bleibt immer. Wir müssen vorwärtsgehen, damit die Euro das erhoffte grosse Fest des Fussballs wird.

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