Van Bastens Traumtor bei der EM 1988
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Auch 35 Jahre danach legendär:Van Bastens Traumtor bei der EM 1988

Todes-Drama in der Kindheit: Freund ertrank vor seinen Augen
Marco van Basten öffnet seine Seele

Marco van Basten (56) war der beste Fussballer der Welt. Die Schattenseiten seines Lebens indes kennt fast niemand. Dies wird sich mit seiner neuen Biografie ändern.
Publiziert: 02.11.2020 um 18:56 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2020 um 21:13 Uhr
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Als «Tor des Jahrhunderts» wurde Marco van Bastens Volleytreffer im EM-Final 1988 immer wieder betitelt.
Foto: Getty Images

Er war der beste Fussballer der Welt, schoss die schönsten Tore, gewann Titel, verdiente viel Geld, lebte den Traum. Marco van Basten führte ein Leben auf der Sonnenseite. Wo aber die Sonne scheint, da gibts auch Schatten. Und die Dunkelheit nahm genauso Einzug ins Leben des «Schwans aus Utrecht», wie er in seinem neuen Buch «Basta: Mein Leben, meine Wahrheit» enthüllt.

Tragödie in der Kindheit

Die gloriose Reise Van Bastens durch die grosse Fussballwelt nämlich endet schon im Alter von nur 28 Jahren abrupt. Und sie beginnt mit einer schrecklichen Tragödie. Der kleine Marco ist gerade mal sieben Jahre, als er mit seinem Kindheitsfreund Jopie an einem Wintertag auf Abenteuersuche ist und die beiden Jungs an einen zugefrorenen See kommen.

Jopie wagt sich zuerst aufs Eis, hält sich an einem Seil, das andere Ende in Van Bastens Händen am Ufer. Als Jopie etwa in der Mitte des Sees ist, bricht das Eis plötzlich ein! Jopie verliert das Seil und verschwindet im Wasser. Van Basten erzählt: «Er trug eine Wollmütze an diesem Tag. Eine Art Eisschnelllauf-Kappe, blau, mit einem weissen und zwei roten Streifen drauf. Diese Kappe schwamm immer noch auf dem Wasser. Ich kann mich ziemlich gut erinnern.»

«Verstand nicht, was Leben und Tod ist»

Sofort holt der kleine Marco Hilfe. Doch es ist alles zu spät, Jopie wird tot aus dem Wasser gezogen. Ein unglaublicher Schock für einen kleinen Jungen, den er gar nicht begreifen kann.

Van Basten: «Es ist schwierig zu verstehen, welchen Einfluss dieses Unglück auf mein persönliches Leben hatte. Ich war sieben, und natürlich hat das grosse Folgen für die Persönlichkeit. Aber was war der Effekt wirklich? Ich weiss es nicht. Ich liebte es, Fussball zu spielen und Jopie war mein Freund damals. Ich verstand noch nicht, was Leben und Tod bedeuten.»

«Hatte 10 Jahre ein Foto von ihm bei mir»

Van Basten muss die Tragödie hinnehmen. «Ich nahm das Unglück mit. Ich werde noch immer sehr emotional, wenn ich wie zuletzt darüber rede. Ich versuchte, es weit weg zu schieben. Er war ja sogar der bessere Fussballer als ich damals. Er war ein Jahr älter. Aber ich lebte weiter. Und er war nicht mehr da, das war die Realität. Ich hatte ein kleines Foto von ihm, dass ich immer bei mir trug. Nach etwa zehn Jahren oder so konnte ich es aber plötzlich nicht mehr finden. Mein Vater hatte es weggeworfen und sagte mir, ich müsse die Vergangenheit vergessen.»

Vergangenheit ist auch seine glanzvolle Karriere. Am letzten Samstag feierte er seinen 56. Geburtstag, ist mittlerweile Vater und Grossvater und kann heute gelassener zurückblicken.

Was wäre, wenn …?

Das war nicht immer so. Denn der Holländer musste seine Karriere schon mit 28 Jahren aufgrund von Knöchelverletzungen und verpfuschten Operationen beenden. Die Frage «Was wäre, wenn …?» verfolgt Van Basten bis weit über sein Karriereende hinaus.

Auf dem Höhepunkt schoss er Holland mit seinem berühmten Traumvolley – von vielen als Tor des Jahrhunderts gefeiert – 1988 zum Europameistertitel gegen die Sowjetunion. Er gewann mit der AC Milan zwei Mal hintereinander die damalige Champions League 1989 und 1990, wurde drei Mal Weltfussballer des Jahres (1988, 1989 und 1992). Und plötzlich ist alles aus. Zu gross die Schmerzen.

«Ich war Gast an meiner eigenen Beerdigung»

Sein letztes Spiel ist der Champions-League-Final 1993 gegen Marseille. Van Basten erzählt, wie er sich zwei Jahre später von den Fans im San Siro verabschieden muss, in Jeans dreht er eine Ehrenrunde, auf der Bank weint der sonst weit weg vom Wasser gebaute Trainer Fabio Capello: «Plötzlich traf es mich, wie ein Schlag. Ich wurde vor 80'000 Zuschauern Zeuge meines eigenen Abschieds. Marco van Basten, der Fussballer, ist nicht mehr. Man sah einen Menschen, der nicht mehr war. Man klatschte für jemanden, der nicht mehr existierte. Ich bin gerannt und habe zurückgeklatscht, aber ich war nicht mehr da. Die Gesänge, der Applaus drangen durch meine Schutzwand. Eine grosse Trauer stieg tief aus meiner Seele auf. Ich wollte losheulen, zwang mich aber, ruhig zu bleiben. Das konnte ich immer, wenn ich musste. Ich fühlte jedoch, wie die Trauer das ganze Stadion einnahm, Trauer darüber, was war, für mich, dafür, wer ich war. Als die Ehrenrunde zu Ende war, hatte sich etwas verändert, etwas Fundamentales. Fussball war mein Leben und ich hatte mein Leben verloren. An diesem Tag starb ich als Fussballer – und ich war Gast an meiner eigenen Beerdigung.»

Van Basten lacht heute über den Vergleich mit James Dean, dem berühmten Schauspieler, der mit 24 Jahren bereits sein junges Leben verlor. «Auch mich sah man nicht alt werden, das stimmt», sagt er. Doch er kämpft seit Jahren zwischen der Trauer über die Jahre, die er verlor und der Dankbarkeit über die Jahre, die er hatte.

«Spüre schon Reue, wenn ich Messi und Ronaldo sehe»

«Wenn ich heute Messi sehe, der mit 33 immer noch spielt, Ronaldo mit 35, auch Lewandowski mit 32, wenn ich sehe, was sie immer noch alles erreichen, dann spüre ich schon ein wenig Reue. Ronaldo spielt noch immer auf dem höchsten Level wie schon so lange Zeit. Was soll ich sagen? Ich muss halt einfach glücklich sein, dass ich diese tollen Erfahrungen in jungem Alter erlebt habe …»

Man merkt: Der frühe Rücktritt schmerzt noch immer im Herzen Van Bastens. «Am Anfang war ich enttäuscht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich meine Karriere nicht beenden konnte. Ich verpasste rund zehn Jahre an Möglichkeiten, Titel zu gewinnen. Aber immerhin hatte ich auch zehn Jahre, in denen ich professionell Fussball spielen, erfolgreich sein und das Leben geniessen konnte und gutes Geld verdiente. Das sind schöne Erlebnisse», so Van Basten.

Von Rauhbeinen rausgekickt?

Viele Zeitzeugen behaupten, der geniale Stürmer sei «aus dem Fussball rausgekickt worden», in Anspielung auf die beinharten Verteidiger in den 80er- und frühen 90er-Jahren, die den grazilen Torjäger mit allem anderen als mit Samthandschuhen anfassten. Es heisst sogar, dass etwa das Verbot von Tacklings von hinten nur wegen der brutalen Behandlung von Van Basten eingeführt wurde. Davon will der allerdings nichts wissen: «Meine erste Knöchelverletzung holte ich mir bei einer eigenen Grätsche! Alle Ratschläge, welche mir Physios und Ärzte später gaben, sorgten immer für nur noch mehr Probleme. Es waren nicht die Verteidiger oder der Fussball, die mich aus dem Spiel warfen, es waren falsche Entscheidungen und schlechte Beratungen von medizinischer Seite. Das war natürlich keine Absicht, aber ich erhielt einfach nicht die richtige Hilfe.»

Am Boden kriechend auf die Toilette

Sein Knöchel wird nie wieder gesund. Es gab Zeiten, da musste er sich zu Hause auf dem Boden kriechend auf die Toilette schleppen, weil er vor lauter Schmerzen nicht mehr gehen konnte. Heute spielt er Squash, weil in der kleinen Halle seine Immobilität nicht so sehr zum Vorschein kommt. Ab und an geht er auch Golfen – mit seinen früheren Oranje- und Milan-Kumpels Ruud Gullit (58) und Frank Rijkaard (58), mit denen er immer noch befreundet ist.

Mitte der Nullerjahre versucht sich Van Basten als Trainer, steht mit der holländischen Elftal bei der WM 2006 und der EM 2008 an der Seitenlinie. Der Job aber gefällt ihm gar nicht: «Als Spieler spielst du und hast so viel Einfluss. Als Trainer aber sprichst du die ganze Woche mit jedem Spieler über ein Spiel. Und wenn das Spiel losgeht, hast du plötzlich nur noch so wenig Einfluss, das war sehr schwer für mich zu akzeptieren. Am Schluss sagte ich mir: Dieser Job ist nicht gut für mich, das macht mich nicht glücklich und schadet meiner Gesundheit.»

«Realisiere, dass mein Glas halb voll ist»

Nun, die Geschichte von Marco van Basten ist eine Geschichte von Verlust. Verlust seines Freundes, Verlust seiner Karriere, seiner Gesundheit, seines Selbstbewusstseins. Er sagt: «Ich kann sehr kalt und eisig sein. Aber das ist in Wahrheit nur, weil ich so sensibel bin. Deshalb versuche ich stets, mich zu verteidigen und werde kalt und pragmatisch. Das ist ein Schutz. Wenn man älter, offener und ehrlicher wird, ist es einfacher zu zeigen, wer man wirklich ist.»

Es scheint, als habe Van Basten mittlerweile wieder Frieden mit dem Fussball geschlossen und alles, was er nicht mehr erreichen konnte, akzeptiert. «Ich realisiere immer mehr, dass mein Glas halb voll ist. Ich bin sehr dankbar, habe eine wunderbare Frau an meiner Seite, habe drei Kinder. Meine älteste Tochter hat einen Sohn, meine zweite Tochter ein Mädchen. Ich habe ein schönes Leben und ich bin für jeden Tag dankbar, an dem ich glücklich bin. Zum Glück kann ich so denken, denn ich geniesse immer mehr, was ich hatte und heute habe.» (wst)

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