Verlauste, streunende Hunde, Kinder mit zerrissenen, dreckigen Jeans, notdürftig aufeinandergeschichtete Backsteinhütten, holprige Kieswege – der Weg zum Grundstück von Raul Bobadilla (31) in Buenos Aires zeigt nicht nur die schönen Seiten Argentiniens.
Das Land in Südamerika ist ein Land der Gegensätze. Bobadilla kennt beide Seiten. Er wuchs in den Armenvierteln der argentinischen 13-Millionen-Metropole auf und sagt offen: «Ich hatte mehr Schlägereien als das durchschnittliche Schweizer Kind.»
Heute empfängt er BLICK wenige Kilometer vom Armenviertel entfernt auf seinem 3600-Quadratmeter-Anwesen, in seinem Haus. Er wohnt in einem abgeschlossenen Teil mit 14 Villen, umgeben von Mauern. Bobadilla steht in seiner Küche, überwacht auf mehreren Bildschirmen das Grundstück, bittet die Gäste, die Schuhe auszuziehen, und weist Sohn Noah (3) an, die geschenkte Toblerone im Kühlschrank zu versorgen: «Jetzt gibt es keine Schokolade.» An der Wand hängt ein Schild: «Wir haben kein Internet, wir reden miteinander.»
Bobadilla, in der Schweiz der grösste Skandal-Stürmer der letzten Jahre, scheint ruhiger geworden zu sein. Und er sagt: «Es ist mir wichtig, der Schweiz zu erklären, was für ein Mensch ich bin. Meine Raser-Fahrt ist nicht zu entschuldigen, aber ich möchte den Leuten erklären, warum es so weit kam.» Vor dem Haus stehen zwei Mittelklasse-Autos, Chevrolets, «die Zeiten von Maseratis sind vorbei», sagt er.
Bobadilla setzt sich an den Tisch, seine Haushälterin serviert Kaffee, Wasser mit Zitrone und Alfajores, süsse argentinische Guetzli mit Caramel. Seine Frau Joy (Miss Argentina 2009) und Söhnchen Lorenzo (3 Monate) sind unterwegs, sein riesiger Hund wartet geduldig vor der Tür.
BLICK: Raul, ohne den Fussball würden Sie vielleicht noch heute in einem Armenviertel leben, in einem Leben geprägt von Gewalt und Drogen.
Raul Bobadilla: Ich will nicht darüber nachdenken, aber es wäre möglich. Oder ich wäre im Gefängnis. Oder tot wie einige meiner Jugendfreunde. Einer starb an Drogen, ein anderer wurde von der Polizei erschossen, als er stahl. Viele von ihnen sind heute noch drogenabhängig. Es war ein Risiko, auch weil ich mit 15 die Schule geschmissen habe. Ich hatte Glück. Aber ich habe auch verdammt hart gearbeitet, um Fussballprofi zu werden.
Wie konkret?
Als ich zwölf war, wurde mein Vater arbeitslos. Er arbeitete in einer Fabrik, und wir hatten kaum noch Geld. Ich stand morgens früh auf, ging zur Schule, um zwölf fuhr ich mit dem Bus drei Stunden zum Training im Nachwuchs von Boca Juniors, dann drei Stunden zurück. Übrigens immer mit Carlos Tevez. An der Bushaltestelle stand meine Mama, gab mir ein Sandwich durch die Tür und ich ging zu den reichen Leuten. Pools säubern, Rasen mähen – mit einem Freund, der das übrigens heute noch macht. Um 7 Uhr zog ich los, um 22 Uhr kam ich nach Hause.
Für die Boca Juniors waren Sie zu dünn und zu klein.
Mir würden die Anlagen fehlen, sagten sie mir mit 13. Ich wollte nicht mehr Fussball spielen, spielte nur noch auf der Strasse. Mit 14 machte ich Probetrainings bei Klubs in Buenos Aires, wurde überall abgelehnt, bis ich beim Zweitligisten Belgrano unterkam. Der Zufall wollte es, dass es eine Kooperation mit River Plate gab – und der Trainer mich mitnahm. Aber eben, ich hatte Disziplinarprobleme.
Was für welche?
Manchmal trank ich mit einigen Freunden bis drei, vier Uhr morgens, machte Party, fast jeden Tag, verpasste Trainings. Man suchte mich überall und fand mich nicht mit 15, 16. Dann sagte man mir bei River Plate: «Du kannst Profi werden, aber so nicht. Entweder du kommst in die Akademie, beziehst hier ein Zimmer, hörst auf mit der Scheisse, oder wir schmeissen dich raus.» Es war meine Rettung. Ich startete bei den Junioren durch, machte aber den nächsten Fehler.
Der war?
Gegen Boca schoss ich in der 85. Minute den Siegtreffer und jubelte wie ein Wahnsinniger. Der TV-Sender ESPN fragte mich nach dem Grund, ich sagte: «Ich habe so extrem gejubelt, weil Boca mich rausgeschmissen hat und weil ich mein Leben lang Boca-Fan war.» Als ich zur Akademie kam, waren für mich alle Türen verschlossen. Man liess mich nicht mehr rein.
Wie lange?
Wochenlang. Doch irgendwann verzieh man mir, weil ich ja doch noch ein Kind war. Gut wurde es aber erst wieder, als ich viele Tore schoss. Und ich kam in die zweite Mannschaft, wo Falcao und Higuain mir im Sturm vor der Sonne standen. Und ich machte den nächsten Fehler.
Welchen?
In der Nähe des Trainingsgeländes, auf dem Weg in ein Lokal, hatte es eine Frau, und ja, ich gebe zu, sie war sehr hübsch und ich habe sie sehr lange angeschaut. Sie sagte: «Was schaust du?» Und ich antwortete, sie solle die Fresse halten. Als ich auf dem Rückweg wieder dort vorbeikam, waren einige Typen da, einer davon ihr Freund. Er beschimpfte mich mit Dingen, die ich gerade nicht sagen will, weil mein Sohn zuhört.
Das Wort «Mutter» kam drin vor, vermuten wir mal.Korrekt. Als er es aussprach, habe ich ihm sofort eine gelangt. Sie haben mich zu viert dann windelweich geprügelt, obwohl ich weitere Treffer landete. Eine Woche später, als ich wieder an ihnen vorbeiging, kam es zur nächsten Schlägerei. Und es ging nachts weiter, sie warfen Steine an unsere Fenster, wo wir schliefen, am Tag vor einem Spiel. Da drehten wir durch.
Was machten sie?
Sie waren 12, wir etwa 80 in der Akademie. Erst schmissen wir alles Mögliche, Fussballschuhe und so weiter, in ihre Richtung. Dann jagten wir sie – etwa 30 von uns – rund ums River-Stadion und prügelten auf sie ein. Bis der Sicherheitsdienst und die Polizei kamen. Das Spiel am anderen Tag gewannen wir – aber ich wurde zurückgestuft. Das war ärgerlich, weil ich gerade in die erste Mannschaft befördert werden sollte und ich nun mit dem dritten Team zu einem Turnier nach Mailand musste. Dort entdeckte mich Erich Vogel. Er empfahl mich Murat Yakin und Walter Grüter.
Die harte Zeit als Testspieler in der Schweiz
Die beiden trainierten Concordia Basel. Das war der Anfang Ihrer Schweiz-Karriere.
Ja. Allerdings begann alles mit einem Missverständnis. Ich sagte meinen Freunden: «Hey, ich wechsle nach Europa zum FC Basel!» Als ich ankam, merkte ich, dass es nur Concordia ist. Und es begann erst eine fürchterliche Zeit.
Waren Sie alleine?
Nein, mein damaliger Berater kam mit, aber es war ein Desaster. Er ging zurück nach Argentinien, liess mich in Basel alleine. Man steckte mich in einen Raum, vielleicht so gross wie der Raum hier mit dem Tisch, etwa acht Quadratmeter. Keine Wohnung, kein Zimmer, eher eine Abstellkammer. Und ich hatte keine Ahnung, was in der Schweiz auf mich zukommt. Da ich noch im Probetraining war und keine Spielberechtigung hatte, bekam ich auch drei, vier Monate keinen Lohn. Ich hatte kein Essen. Ich ass tagelang nichts, weinte zu Hause und fuhr schwarz Tram, weil ich keinen Rappen hatte.
Wie bitte? Als Challenge-League-Spieler?
Ja. Einmal fragte mich Murat im Training: «Warum trainierst du nicht richtig?» Ich sagte, ich hätte seit zwei Tagen nichts gegessen. Ab jenem Tag nahm er mich mit Geschäftsführer Alex Radovic jeden Tag mit zum Frühstück im Joggeli. Später durfte ich bei Alex wohnen, was meine Integration erleichterte.
Sie schossen für Congeli auf Anhieb 18 Tore und gingen zu GC. Da fanden Sie südamerikanische Freunde an der berühmt-berüchtigten Langstrasse, Ihr Party-Leben begann wieder von vorne.
Mit 19 und als Single gehst du viel in Discos und an Partys. Ich lernte gute und schlechte Menschen kennen. Das ist normal. Gut waren Gonzalo Zarate oder Toni dos Santos. Die schlechten wollten vor allem, dass ich mit an jede Party komme und immer bezahle. Ich fühlte mich ausgenutzt. Wie auch von Menschen in meiner Heimat.
Inwiefern?
Ich überweise bis heute 4000 bis 6000 Euro pro Monat an meine Familie und an Verwandte in Argentinien. Aber oft habe ich das Gefühl, dass es nicht jeder ernst mit mir meint.
Dann können Sie die Zahlungen ja einfach einstellen.
Ja, aber ich sage mir: «Das ist doch nur Geld. Nicht das Leben.» Aber es geht um Charakter und Respekt: Zum Beispiel mein Vater geht mit 62 noch täglich in die Metallbau-Firma, weil er es will. Ich sagte ihm schon lange, er solle aufhören, aber er will nicht.
Von GC wechselten Sie zu Gladbach. Sportlich lief es ganz gut. Aber als 22-Jähriger wurden Sie mit 1,1 Promille am Steuer erwischt.
Ich war gerade ins Auto gestiegen und wollte losfahren, als die Polizisten kamen. Was soll ich sagen? Ein Fehler. Aber mein Problem ist: Wenn ich sauer bin oder mir etwas nicht gefällt, dann verliere ich schnell die Nerven. Das ist ein Problem, das mich mein ganzes Leben verfolgt. Das ist nicht meine Stärke. Aber seit ich Papa bin, überlege ich zwei, drei Mal.
2012 wechselten Sie zu YB. In der Europa League trafen Sie ohne Ende – und der FC Basel warb Sie ab.
Im Nachhinein war es wahrscheinlich mein grösster Fehler, YB zu verlassen. Es lief in allen Bereichen gut. Aber ich wollte mehr, Basel war mehr und ich wechselte. Auch, weil Murat Yakin dort Trainer war.
So sieht Bobadilla seinen Raser-Skandal
In Basel passte es nicht. Entscheidend zu jener Zeit war der grosse Skandal. Sie fuhren in Ihrem Maserati mit 111 km/h in einer 50er-Zone. Sie hätten ein Kind totfahren können.
Ja. Als der Polizist mich anhielt, realisierte ich meinen Fehler sofort und dachte: «Ich bin der grösste Vollidiot, was für ein Depp bin ich.» Aber es gab Gründe, warum es passiert ist. Zu jener Zeit lief es mir beim FCB nicht. Am Abend vorher hatte ich unschöne Gespräche mit meinen Eltern, die grosse Probleme plagten. Wir diskutierten die halbe Nacht. Am anderen Morgen hatte ich Streit mit meiner Frau – und dann war ich zu spät fürs Testspiel dran. Ich hatte grosse Angst, bestraft zu werden.
Das rechtfertigt nicht, mit 61 Stundenkilometern zu viel innerorts zu rasen.
Das stimmt. Ich bin selber schuld an diesem Skandal und will nichts beschönigen. Man darf nicht wütend Auto fahren. Ich habe mich selbst kaputtgemacht, ich ganz allein. Gestört hat mich nur, dass immer der Maserati in den Vordergrund gestellt wurde. Der Sound des Autos ist laut, ja, aber das hat nichts mit dem Vorfall zu tun. Der wäre auch mit einem VW-Golf möglich gewesen. Ich bin nicht gerast, weil ich einen Maserati habe, sondern weil es in meinem Kopf spukte.
Hatten Sie Angst, ins Gefängnis zu müssen?
Einige wollten es, aber das Gericht anerkannte zum Glück, dass ich kein Krimineller bin. Glauben Sie mir, ich bin als Mensch genug bestraft worden. Es tat mir auch sehr weh, als alle über mich als «Raser Raul» redeten. Zum Glück hatte ich meine Frau an meiner Seite. Nicht nur, weil sie mich jeden Tag zum Training fuhr.
Die Beziehung zum FC Basel ging in die Brüche. Sie flüchteten zu Augsburg. Bei Ihrer Vorstellungs-Pressekonferenz sagten Sie, Murat Yakin habe Sie zu wenig unterstützt.
Er hat sich nach dem Skandal von mir abgewandt. In jenem Moment habe ich das nicht verstanden. Aber als ich dann nachgedacht habe, sagte ich mir: Das ist sein gutes Recht. Weder er noch der FC Basel haben einen Fehler gemacht. Ich entschuldige mich hier nochmals bei der ganzen Schweiz und Präsident Bernhard Heusler. Der Klub hat nichts falsch gemacht, und auch die vielen Bussen waren in Ordnung.
Sie durften vier Jahre nicht Auto fahren in der Schweiz, verloren alles in allem etwa 150 000 Franken.
Ja. Und man nahm mir den Maserati weg. Und ich bereue auch viel. Es ist nicht einfach, wenn man als Südamerikaner aus einer solch armen Gegend zu euch kommt, alles ist wow und super und Party. Und du hast als Fussballer Geld, schnelle Autos, Versuchungen. Als junger Mann war ich dem nicht gewachsen, so ehrlich muss ich sein.
Sie sollen zu jener Zeit oft im Casino gewesen sein.
Und jetzt? Das ärgert mich. Wir sind auch nur Menschen, wir wollen auch Spass haben, wir wollen auch leben. Wir mussten um zwölf zu Hause sein. Das war ich immer.
Würden Sie zu Yakin nach Sion wechseln?
Absolut. Ich mag Murat. Es ist mein Ziel, wieder in Deutschland oder in der Schweiz zu spielen.
Warum wechselten Sie dann im Sommer von Gladbach zu den Argentino Juniors?
Da ich noch nie in der ersten Liga Argentiniens spielte, wollte ich sie sehen und mal hier spielen. Aber die letzten Monate waren eine Katastrophe. Es geht nur um Härte und null um Technik. Als Stürmer bekommst du nur auf die Socken, und die Schiris pfeifen nichts.
Argentino Juniors ist der erste Klub von Diego Armando Maradona. Ist er manchmal da?
Ja, manchmal. Er wohnt hier in der Nähe, mit seiner Frau. Getroffen habe ich ihn aber noch nie. Im Gegensatz zu Lionel Messi, dem ich bei der Copa America die Hände schütteln durfte. Das werde ich sicher mein Leben lang nie vergessen.
«Hätte eine grössere Karriere als Mohamed Salah machen können»
Aber warum wollen Sie in die Schweiz?
Weil es da auch um Taktik geht. Weil ich das Land liebe. Und weil ich auch bereit bin, auf viel Geld zu verzichten.
Wohin würden Sie gehen?
Sion, GC, St. Gallen, Luzern, Basel, YB – egal. Ich habe für die Schweiz nur gute Gefühle.
Wo hatten Sie Ihre beste Zeit?
Bei YB, ich habe mich in die Stadt und den Verein verliebt. Weiter kann ich sagen: Ich sehe meine Zukunft nach der Karriere eher in der Schweiz als hier.
Warum?
Unter anderem wegen der Kinder. Ich habe Angst, dass sie entführt werden. Hier musst du Angst haben, dass man sie schnappt und von dir Lösegeld erpresst. Und ein anderes Problem ist die Gewalt: Wo ich aufwuchs, waren Schlägereien normal: auf dem Schulplatz, auf dem Fussballfeld, überall. Das muss nicht sein für meine Kinder.
Sie haben ein hartes Leben hinter sich, aber auch ein Fussballer-Leben mit Exzessen. Was wäre für Sie dringelegen, hätten Sie keine Skandale gehabt?
Ich hätte eine grössere Karriere als Mohamed Salah machen können. Und ich wäre noch heute in der Premier League, davon bin ich überzeugt. Aber eben, ich bin froh, meine Karriere gemacht zu haben, denn ich habe keine Ausbildung – und wenn ich ehrlich bin, keine Ahnung von Arbeit. Neben Fussball hätte mich höchstens mein Vater retten können, der mich so hart geschlagen und so zu ehrlicher Arbeit gezwungen hätte.
Wie oft machen Sie Party?
Sind Sie verrückt? Ich habe eine Frau und zwei Söhne. Nie!
Der 10-fache paraguayische Nati-Spieler wurde 1987 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires geboren. Die fussballerische Ausbildung durchlief der 1,80 m grosse Stürmer unter anderem bei River Plate, ohne allerdings einmal für die Profis zu spielen. 2006 gings nach Europa, er spielte für Concordia Basel, GC, Gladbach, Aris Thessaloniki, YB und den FCB. Dort sorgte er für einen Raser-Skandal, als er am 24. Juli 2013 in Seewen SO mit 111 km/h durch die 50er-Zone preschte. Das Urteil: Bedingte Gefängnisstrafe von 16 Monaten, Probezeit von vier Jahren und eine hohe Busse. Über Augsburg und erneut Gladbach gings zuletzt zu den Argentinos Juniors (seit 2018).
Der 10-fache paraguayische Nati-Spieler wurde 1987 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires geboren. Die fussballerische Ausbildung durchlief der 1,80 m grosse Stürmer unter anderem bei River Plate, ohne allerdings einmal für die Profis zu spielen. 2006 gings nach Europa, er spielte für Concordia Basel, GC, Gladbach, Aris Thessaloniki, YB und den FCB. Dort sorgte er für einen Raser-Skandal, als er am 24. Juli 2013 in Seewen SO mit 111 km/h durch die 50er-Zone preschte. Das Urteil: Bedingte Gefängnisstrafe von 16 Monaten, Probezeit von vier Jahren und eine hohe Busse. Über Augsburg und erneut Gladbach gings zuletzt zu den Argentinos Juniors (seit 2018).