Maradona sitzt da, geknickt und innerlich zerrissen. Die Weihnachtsfeier der SSC Napoli ist in vollem Gang, der Blick aber geht ins Leere. Keine Emotion ersetzt in diesem Moment die Einsamkeit. Selbst die sonst so treue Mafia hat sich nach sieben Jahren von ihm abgewandt. Das himmlische Blau hat sich in seinen Augen in ein höllisches Rot verwandelt. Verfolgt von den Fans, gehetzt vom Verein, gejagt von der Drogenfahndung. «Als ich nach Neapel gekommen bin, haben mich 85’000 Menschen begrüsst. Als ich ging, war ich allein», sagt Maradona im letzten Akt des Films.
Zerfressen vom Kokain
Zu viel Erfolg, Geld, Druck – und viel zu viel Schmerz. Am Ende ist Maradona nur noch eine Marionette, ein Schatten seiner Selbst, eine seelenlose Hülle – erschöpft von der Fülle der Gefühle. Zerfressen vom Kokain, verloren in einem geknechteten Körper. Die Faszination für den Fussball hat sich verflüchtigt. Die Leidenschaft ist nur noch eine Last. Der Ruhm hat den ewigen Rebellen in den Ruin getrieben. «Maradona war vielleicht der beste Fussballer aller Zeiten, aber er bezahlte dafür einen zu hohen Preis», sagt Daniel Arcucci. Der renommierte Sportjournalist aus Argentinien ist ein wichtiger Wegbegleiter und Zeitzeuge, der mit seiner Stimme die beinahe biblische Geschichte von Maradona nacherzählt und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt.
Unerwünschtes Kind wird zum Knackpunkt
Zu Wort kommen auch Mutter, Schwester, Ehefrau – und eine seiner unzähligen Geliebten. Es die Affäre, von der er einen unehelichen Sohn hat. Das unerwünschte Kind wird zum Knackpunkt in seiner Karriere. Maradona leugnet die Vaterschaft, obwohl die ganze Welt von seinem Ausrutscher erfährt. Das Interview mit der verstossene Mutter am Geburtsbett von Diego Junior wird im italienischen Fernsehen übertragen, eine kurze Sequenz von über zwei Stunden meisterlich komponiertem Archivmaterial.
Fantastisch rasante Reise
Wie ein Perlentaucher hat sich Oscar-Regisseur Asif Kapadia (Senna 2010, Amy 2015) über Monate und Jahre auf die Suche nach Originalbildern gemacht. Entstanden ist eine fantastisch rasante Reise mit Diego Armando Maradona. Eine ungeschminkt ehrliche Dokumentation, die dem Genie in seinen schönsten Stunden – mit allen Schattenseiten – akribisch auf den Grund geht. «Da ist Diego, der kleine, unschuldige Junge, der Fussball spielen wollte, um seiner Familie ein Haus zu kaufen. Und da ist Maradona, die Fassade, hinter der sich Diego vor dem gigantischen Druck und der Öffentlichkeit zu verstecken suchte», verrät sein alter Fitnesstrainer Fernando Signori.
Aus der Dunkelheit auf die strahlende Bühne
Geholfen hat dem britische Filmemacher bei diesem Meisterwerk auch Maradona selbst – mit bisher unveröffentlichten Ausschnitten aus dem Privatbesitz öffnete der Protagonist die Büchse der Pandora. Woraus Kapadia auf dem Kinoplakat diese Kopfzeile kreierte: Rebell. Schummler. Held. Gott.
Zum Vorschein kommt in dieser Biografie jedoch zuerst ein verträumter Strassenkicker. Aufgewachsen in den Sechzigern als eines von acht Kindern in einem armen Vorort von Buenos Aires verliebt er sich in sein einziges Spielzeug. Der Fussball führt den Dribbelkünstler aus der Dunkelheit auf die strahlende Bühne der Boca Juniors. Trotz seiner Volljährigkeit hat der neue Grossverdiener der Familie Maradona immer noch Flausen im Kopf und am Körper. Er trägt Pelz und muss aufgrund seiner Popularität erste Vergleiche mit Pelé abblocken. «Ich bin einfach Maradona», sagt er dazu selbstbewusst, während der Brasilianer den Vergleich belächelt und behauptet, dass Maradona trotz seines Talents nicht in der Lage ist, Verantwortung zu tragen. Maradona beweist das Gegenteil.
Versetzt Neapel in Ekstase
Während WM 1986 in Mexiko wird er in Argentinien zum Nationalheld. Unvergesslich sein Auftritt im Viertelfinal gegen England. Zuerst das Tor mit der «Hand Gottes» und nur vier Minuten später der unwiderstehliche Sololauf über das halbe Feld. Im Halbfinal gegen Belgien erzielt er wieder zwei Tore und im Endspiel gegen Deutschland gibt er den entscheidenden Pass zum 3:2.
Als Weltmeister entfaltet er in der folgenden Saison auch in Neapel alle Facetten seiner Schaffenskraft und versetzt die Bevölkerung am Fusse des Vesuv mit dem ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte in Ekstase. Erst drei Jahre zuvor waren in der Stadt im Süden Italiens wegen eines Erdbebens Tausende ums Leben gekommen. Galgenhumor verleitete die Fans nach der neuen Glückseligkeit durch Maradona, an eine Friedhofsmauer einen geschmacklosen, aber genialen Spruch zu verewigen: «Ihr habt etwas verpasst».
Maradona gilt für viele als bester Fussballer aller Zeiten. Was war das Besondere an ihm?
Asif Kapadia: Eine Kombination aus sagenhaftem Instinkt und fantastischer Technik, die er sich knallhart antrainiert hatte. Er war ein Kämpfer, der immer sofort wieder aufstand, wenn er am Boden lag. Und er war auch ein toller Teamplayer, der seine Mitspieler zu Höchstleistungen anspornen konnte. Er hat den SSC Neapel zwei Mal zur italienischen Meisterschaft geführt – einen Verlierer-Verein ohne Stars, der vorher und nachher nie mehr Meister wurde.
Wie haben Sie sein Vertrauen gewonnen?
Er war ein grosser Fan meiner Doku über Ayrton Senna. Und mitten während unserer Vertragsverhandlungen gewann ich für «Amy» den Oscar. Da postete Maradona auf Facebook ein Foto von mir mit der Trophäe und schrieb: «Dieser Typ macht als nächstes einen Film über mich!»
Wie oft haben Sie ihn für Ihren Film getroffen?
Fünf Mal. Sein Ex-Trainer hatte mich vorgewarnt: «Pass auf, du begegnest dem
grössten Lügner der Welt!»
Wie haben Sie ihn in den Gesprächen erlebt?
Wenn er gut drauf ist, kann er ziemlich charmant sein. Aber manchmal benimmt er sich auch total ekelhaft. Oft hat er bloss gesagt: «Über den Typen rede ich nicht, erwähne seinen Namen nie wieder!» Interessant ist seine Aufmerksamkeitsspanne: 90 Minuten – die Länge eines Fussballspiels. Danach wird es ihm langweilig, und man bekommt nichts mehr aus ihm heraus.
Trotzdem haben Sie ihm Dinge entlockt, die er noch nie öffentlich gesagt hat.
Ja, weil ich nicht lockergelassen habe. Als ich mehr über seinen unehelichen Sohn wissen wollte, wurde er richtig wütend und sagte: «Mann, du hast echt Nerven, mich so etwas zu fragen!» Und dann, nach einer Pause: «Aber dafür respektiere ich dich!»
Im Film dokumentieren Sie auch seinen Absturz: die Drogensucht, die Sex-Eskapaden, die Verbindungen zur Camorra. Ist er für Sie ein Held oder ein Antiheld?
Beides. Maradona ist zugleich Engel und Teufel, Charmeur und Kotzbrocken, Genie und Betrüger. In einem Moment dribbelt er die gesamte gegnerische Abwehr schwindelig, im nächsten erzielt er ein Tor mit der Hand. Diese Widersprüche ziehen sich durch sein ganzes Leben.
Sein Ex-Trainer sagt im Film, er hätte zwei Persönlichkeiten erlebt: einerseits Diego, den netten, witzigen Strassenjungen, und andererseits Maradona, den eiskalten, vom Ruhm verdorbenen Egoisten. Haben Sie beide kennengelernt?
Leider nein. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es Diego nicht mehr gibt. Viele Leute
haben zu mir gesagt: «Ach, ich wünschte, Maradona wäre wieder der alte!» Ich habe mich lange gefragt, was wohl der Wendepunkt in seinem Leben war.
Und? Was haben Sie herausgefunden?
Es ist auf dem Gipfel seiner Karriere passiert: 1986, als er mit Argentinien
Weltmeister wurde und zur selben Zeit erfuhr, dass er einen unehelichen Sohn hatte – aus einer Affäre mit einer Neapolitanerin. Diesen Sohn hat er erst 2003 getroffen. Später hat er seine Vaterschaft anerkannt. Aber in den Jahrzehnten zuvor hat er seinen Seitensprung beharrlich geleugnet. Ich glaube, diese Lügerei ist die tiefere Ursache für alle seine Probleme.
Wie kommen Sie darauf?
Ich habe die Archivaufnahmen genau studiert – und festgestellt, dass er seit Mitte 1986, als er seine Affäre zum ersten Mal bestritten hat, unglücklich wirkt. Er ist Weltmeister, er ist der beste Fussballer der Welt, er müsste total happy sein – aber das Leuchten in seinen Augen ist plötzlich verschwunden. Man sieht es ihm an: Er ist nicht mehr derselbe. Seine Augen können nicht lügen! (Interview: Marco Schmidt)
Maradona gilt für viele als bester Fussballer aller Zeiten. Was war das Besondere an ihm?
Asif Kapadia: Eine Kombination aus sagenhaftem Instinkt und fantastischer Technik, die er sich knallhart antrainiert hatte. Er war ein Kämpfer, der immer sofort wieder aufstand, wenn er am Boden lag. Und er war auch ein toller Teamplayer, der seine Mitspieler zu Höchstleistungen anspornen konnte. Er hat den SSC Neapel zwei Mal zur italienischen Meisterschaft geführt – einen Verlierer-Verein ohne Stars, der vorher und nachher nie mehr Meister wurde.
Wie haben Sie sein Vertrauen gewonnen?
Er war ein grosser Fan meiner Doku über Ayrton Senna. Und mitten während unserer Vertragsverhandlungen gewann ich für «Amy» den Oscar. Da postete Maradona auf Facebook ein Foto von mir mit der Trophäe und schrieb: «Dieser Typ macht als nächstes einen Film über mich!»
Wie oft haben Sie ihn für Ihren Film getroffen?
Fünf Mal. Sein Ex-Trainer hatte mich vorgewarnt: «Pass auf, du begegnest dem
grössten Lügner der Welt!»
Wie haben Sie ihn in den Gesprächen erlebt?
Wenn er gut drauf ist, kann er ziemlich charmant sein. Aber manchmal benimmt er sich auch total ekelhaft. Oft hat er bloss gesagt: «Über den Typen rede ich nicht, erwähne seinen Namen nie wieder!» Interessant ist seine Aufmerksamkeitsspanne: 90 Minuten – die Länge eines Fussballspiels. Danach wird es ihm langweilig, und man bekommt nichts mehr aus ihm heraus.
Trotzdem haben Sie ihm Dinge entlockt, die er noch nie öffentlich gesagt hat.
Ja, weil ich nicht lockergelassen habe. Als ich mehr über seinen unehelichen Sohn wissen wollte, wurde er richtig wütend und sagte: «Mann, du hast echt Nerven, mich so etwas zu fragen!» Und dann, nach einer Pause: «Aber dafür respektiere ich dich!»
Im Film dokumentieren Sie auch seinen Absturz: die Drogensucht, die Sex-Eskapaden, die Verbindungen zur Camorra. Ist er für Sie ein Held oder ein Antiheld?
Beides. Maradona ist zugleich Engel und Teufel, Charmeur und Kotzbrocken, Genie und Betrüger. In einem Moment dribbelt er die gesamte gegnerische Abwehr schwindelig, im nächsten erzielt er ein Tor mit der Hand. Diese Widersprüche ziehen sich durch sein ganzes Leben.
Sein Ex-Trainer sagt im Film, er hätte zwei Persönlichkeiten erlebt: einerseits Diego, den netten, witzigen Strassenjungen, und andererseits Maradona, den eiskalten, vom Ruhm verdorbenen Egoisten. Haben Sie beide kennengelernt?
Leider nein. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es Diego nicht mehr gibt. Viele Leute
haben zu mir gesagt: «Ach, ich wünschte, Maradona wäre wieder der alte!» Ich habe mich lange gefragt, was wohl der Wendepunkt in seinem Leben war.
Und? Was haben Sie herausgefunden?
Es ist auf dem Gipfel seiner Karriere passiert: 1986, als er mit Argentinien
Weltmeister wurde und zur selben Zeit erfuhr, dass er einen unehelichen Sohn hatte – aus einer Affäre mit einer Neapolitanerin. Diesen Sohn hat er erst 2003 getroffen. Später hat er seine Vaterschaft anerkannt. Aber in den Jahrzehnten zuvor hat er seinen Seitensprung beharrlich geleugnet. Ich glaube, diese Lügerei ist die tiefere Ursache für alle seine Probleme.
Wie kommen Sie darauf?
Ich habe die Archivaufnahmen genau studiert – und festgestellt, dass er seit Mitte 1986, als er seine Affäre zum ersten Mal bestritten hat, unglücklich wirkt. Er ist Weltmeister, er ist der beste Fussballer der Welt, er müsste total happy sein – aber das Leuchten in seinen Augen ist plötzlich verschwunden. Man sieht es ihm an: Er ist nicht mehr derselbe. Seine Augen können nicht lügen! (Interview: Marco Schmidt)