Der Tag ist gekommen. Sehnen, Bänder versagen ihren Dienst. Physiotherapeuten beugen sich über ihn und schütteln den Kopf wie Automechaniker angesichts eines maroden Motors. Es geht nicht mehr beim alten Knaben. Steven Gerrard, 35 Jahre alt, wird diesen Verschleiss selbst erkannt haben, diagnostiziert hat ihn ein anderer: Liverpools Trainer Brendan Rodgers rief seinen Kapitän zu sich ins Büro.
Er muss sich gefühlt haben wie ein Mann, der eine lange Beziehung beendet, ein bisschen auch wie einer, der dem Grossvater beizubringen hat, dass es wohl besser wäre, demnächst ins Heim umzuziehen. «Dieses Gespräch fand eher statt, als ich angenommen hatte», sagte Gerrard hinterher. So wie alles, von dem man sich wünscht, dass es niemals kommen möge, nun mal notorisch zu früh an der Türe klingelt.
Gerrard bekam von seinem Trainer zu hören, er könne ihm nicht mehr garantieren, dass er in Zukunft stets von Anfang an spiele. Keine Option für Gerrard: «Seit ich 16 bin, gehe ich jeden Morgen zur Arbeit und bereite mich darauf vor, am Wochenende 90 Minuten zu spielen. Ich bin kein Bankdrücker.» Den Einjahresvertrag, der ihm nach der Unterredung mit Rodgers noch angeboten wurde, unterschrieb er nicht mehr. Er wird in die nordamerikanische Liga zu LA Galaxy wechseln. Der einst Unermüdliche ist müde geworden.
Gerrard ist im Vorort Huyton aufgewachsen, das wegen seiner dörflichen Struktur «the village» genannt wird. In der Mannschaft der Zehnjährigen wurde er 1990 zum Spieler der Saison gewählt. «Gerrard war ein grosser Kapitän», heisst es in einem Bericht über eine Partie der Whiston Juniors gegen die All Saints Youth. «Er schoss fünf Tore und riss alle mit.»
Ein Held aus der Arbeiterklasse
Er versteht sich auch heute noch als Repräsentant der Menschen von Huyton, aus deren Mitte er an die Spitze gehoben wurde. Das Talent aber, das er ihnen voraus hatte, sollte nicht nur eine Gunst des Schicksals sein, die ihn privilegiert erscheinen liess. Er wollte einer von ihnen bleiben. Ein Held zwar, aber einer aus der Arbeiterklasse. Ein arbeitender Held. Ein heldenhafter Arbeiter. «Ich bin stolz auf meine Herkunft», sagt er. Man kann ihn aus dieser Stadt herausholen, aber diese Stadt nicht aus ihm.
Als Rafael Benitez 2004 das Traineramt beim Liverpool FC von Gérard Houllier übernahm, bat er seine Spieler, mit einem Wort zu beschreiben, was sie zum Erfolg beizutragen hätten. Steven Gerrard antwortete: «Passion.» Das kann man mit Leidenschaft übersetzen. Und auch mit Leidensgeschichte. Sie muss man erzählen, wenn man erklären will, warum Steven Gerrard so viel mehr als das Maskottchen eines Arbeitervereins ist. Warum er es für seinen Beruf hält, Wunder zu vollbringen. Warum er besessen davon ist, seine Fans in einen Zustand der Glückseligkeit zu versetzen, so flüchtig er auch sein mag.
Die Passion Stevies begann 1989, und sie wird auch dann nicht enden, wenn Gerrard seinen letzten Abpfiff hört. Es war das Jahr, in dem er in die Jugendakademie des Liverpool FC eintrat, wo ihn das Klubidol Steve Heighway unter seine Fittiche nahm. Und es war das Jahr, in dem sein Cousin Jon-Paul Gilhooley starb, zerquetscht im Hillsborough Stadium zu Sheffield, als im Halbfinale zwischen Liverpool und Nottingham Forest die Westtribüne wegen unkontrolliert zuströmender Besucher zur Todesfalle wurde. Jon-Paul, zehn Jahre alt, war das jüngste von 96 Opfern. Er wollte einmal für Liverpool spielen, diesen Traum teilte er mit Stevie. Die Eintrittskarte für den Halbfinal hatte sein Onkel auf den letzten Drücker ergattert, Jon-Paul war schon auf dem Weg in die Schwimmhalle gewesen. Er starb im einzigen Krankenwagen, den die überforderten Einsatzkräfte ins Stadioninnere gelassen hatten.
«Jon-Paul wäre stolz auf dich», sagten dessen Eltern Jackie und Ronnie zu Gerrard, als er ins Kader der ersten Mannschaft berufen wurde. «Ich weiss, dass er mir zuschaut», antwortete Gerrard. Wann immer er zu den Spielen ins Anfield Stadium fährt, hält er am Hillsborough-Mahnmal an und steigt aus dem Wagen. «Dann lese ich die Namen derjenigen, die nie mehr nach Hause kommen», schreibt er in seiner Autobiografie. «Bei einem halte ich inne: Jon-Paul Gilhooley, zehn Jahre alt. Es ist wahr: Ich spiele für Jon-Paul.»
«Ich spiele für Jon-Paul»
Es ist eine der ergreifendsten Geschichten, die der Fussball schrieb, dass Gerrards Laufbahn beim Liverpool FC in dessen dunkelster Stunde begann, die zugleich Gerrards Familientragödie ist. Sie erklärt seine Loyalität zu diesem Klub, die ihn Millionenangebote, etwa vom Chelsea FC oder von Real Madrid, samt und sonders hat ausschlagen lassen. You’ll never walk alone: Wie könnte er diesen Klub, der spätestens seit 1989 auch eine Leidensgemeinschaft ist, jemals im Stich lassen? Sie erklärt auch sein beispielloses Ethos aus Aufopferung, Hingabe und Demut, das ihn bei seinem Abschied umso mehr erfüllte. Wenn er nur könnte, er würde die 96 Toten wieder zum Leben erwecken.
Gerrard ist die Ikone der Malocherstadt Liverpool. Doch dieser Mann kennt keinen Feierabend. Wie soll er sich da unter dem Begriff Rente etwas vorstellen? Wie soll er ertragen, dass seine Kräfte schwinden? Wer erledigt denn jetzt all die Arbeit? Steven Gerrard wollte in jeder Saison, in jedem Spiel, in jeder Minute Geschichte schreiben. Ohne jeden Zweifel hat er die Menschen auf der berühmtesten aller Stehtribünen – und nicht nur dort – erzittern lassen, und das Hunderte Male. Und doch glaubt er noch immer, ihnen etwas schuldig geblieben zu sein. Den englischen Meistertitel womöglich, auf den sie seit 1990 vergeblich warten.
«Stevie war der Beste!»
Gerrard ist ein Zweifler, ein introvertierter, zuweilen melancholischer Mann. Er sei wohl, schreibt Chronist Ken Early, «der grüblerische Kopf einer Institution, die von der Angst vor ihrem Niedergang heimgesucht ist».War er ein begnadeter Allrounder? Oder einer, der alles ein bisschen konnte, aber nichts aussergewöhnlich gut?
Gerrard blieb bei seinem Klub, bei den Menschen aus Huyton, an der Anfield Road, vor dem Kop, unter dem Blick seines Cousins Jon-Paul. Er opferte seine Chance, um die Chancen des Liverpool FC zu verbessern. Sein ehemaliger Mannschaftskamerad Craig Bellamy sagt: «Stevie war immer der Beste von uns. Wir konnten eigentlich nur gewinnen, wenn er einen guten Tag hatte. Das hat dazu geführt, dass er sich zu viel zugemutet hat. Er wollte es allein richten. Das ist eine grosse Last auf den Schultern eines einzigen Mannes.»
Von dieser Last Abschied zu nehmen, sie abzuschütteln nach 16 Jahren als Profi des Liverpool FC und endlich einen Schritt herauszutreten aus dem Bannkreis der tragischen Geschichte dieses Vereins – es wird Steven Gerrard hoffentlich leichter fallen, als er angenommen hat. Mit 35 wechselt er zum ersten Mal den Verein, zieht zum ersten Mal in eine andere Stadt. «Ich freue mich darauf», sagte er. «In Liverpool ist es manchmal nicht ganz einfach.»
Und so prangt über Steven Gerrards Abschied die Frage: Hätte er mehr erreicht, wenn er weniger gewollt hätte?
Das ungekürzte Porträt von Dirk Gieselmann erschien im deutschen Fussballmagazin «Elf Freunde»
Mannschaft | SP | TD | PT | ||
---|---|---|---|---|---|
1 | Liverpool FC | 15 | 18 | 36 | |
2 | Chelsea FC | 16 | 18 | 34 | |
3 | Arsenal FC | 17 | 18 | 33 | |
4 | Nottingham Forest | 17 | 4 | 31 | |
5 | Aston Villa | 17 | 0 | 28 | |
6 | Manchester City | 17 | 4 | 27 | |
7 | Newcastle United | 17 | 6 | 26 | |
8 | AFC Bournemouth | 16 | 3 | 25 | |
9 | Brighton & Hove Albion | 17 | 1 | 25 | |
10 | FC Fulham | 16 | 2 | 24 | |
11 | Tottenham Hotspur | 16 | 17 | 23 | |
12 | Brentford FC | 17 | 0 | 23 | |
13 | Manchester United | 16 | 2 | 22 | |
14 | West Ham United | 17 | -8 | 20 | |
15 | Crystal Palace | 17 | -8 | 16 | |
16 | Everton FC | 15 | -7 | 15 | |
17 | Leicester City | 16 | -13 | 14 | |
18 | Ipswich Town | 17 | -16 | 12 | |
19 | Wolverhampton Wanderers | 16 | -16 | 9 | |
20 | Southampton FC | 16 | -25 | 5 |