Marcel Reif. Ein Name, der fast schon als Synonym für Fussball oder gar Fussballverrücktheit in die Wörterbücher eingehen könnte. Der Star-Kommentator darf sich bis heute, nach über 30 Jahren im Sportjournalismus, noch immer grosser Beliebtheit erfreuen. Reif wird aber auch gehasst. Und Reif ist nicht nur Fussball.
Kurz vor der Mittagszeit haben wir uns mit Marcel Reif zum Skype-Interview verabredet. Nach kurzen Startschwierigkeiten können wir loslegen. «Das ist nicht mein Kerngeschäft», sagt Reif beim Einstellen der Kamera. Doch er wäre nicht Marcel Reif, wenn er nicht auch das hinbekommen würde. Er sagt, wenn man will, geht fast alles.
Reif spielt Detektiv
So ist sich der 70-Jährige auch sicher, dass er jeden, der ihn anonym beschimpft und dabei die, wie er sagt, rote Linie überschreitet, auch kriegt. Zweimal ist Reif bisher als «Detektiv» ausgerückt um einen Unbekannten zu entanonymisieren. Nach dem Champions-League-Final zwischen Bayern und Chelsea 2012 zum Beispiel. Da erhält Reif die Nachricht «Deine Familie soll brennen». Reif: «Ich sagte zu einem Freund, einem Anwalt, ‹den will ich haben›.» Zwei Wochen später hatten sie ihn. Ein Türsteher aus Darmstadt, er bekam eine Geldstrafe von 2500 Euro.
Obwohl Reif gar über einen Legenden-Status verfügt, er hat auch seine Feinde. Der heutige «blue»-Experte und Kommentator nimmt kein Blatt vor den Mund. Reif: «Fans sind blind. Das dürfen sie auch sein. Fans gucken mit dem Herzen. Sage ich etwas gegen ihren Verein, mögen sie mich nicht mehr.»
Was das bedeutet, spürt der TV-Mann nicht nur im Internet, auch vor physischen Angriffen wird er nicht verschont. «Sie können sagen, ich ertrage den nicht. Oder: Das ist das grösste Arschloch unter der Sonne. Persönlich können Sie mich rauf und runter beleidigen. Dann gebe ich es im schlimmsten Fall mit gleichere Münze zurück. Da ist mein Spektrum schier endlos. Aber Irgendwann kommen wir dann schon an eine Grenze.»
Schock-Moment 2016
So ist es. Es war im Jahr 2016. «Ich war an einem Spiel und da haben mir Leute oder zumindest Angehörige dieser Spezies Bier übergeschüttet», beginnt Reif zu erzählen und witzelt, «dabei ist mir in den Sinn gekommen, dass meine Frau mir doch einmal gesagt hat, Bier sei gut für die Haare.» Seine Miene wird wieder ernst. «Dann habe ich aber in diese Gesichter geguckt und da habe ich ein Ausmass an Hass gesehen», er hält kurz inne, «das konnte ich nicht begreifen. Das war mir zu viel.» Das sei gar so schockierend gewesen, dass das mit ein Grund für seinen Rücktritt 2016 gewesen sei. «Das habe ich für mich selber nicht mehr auf die Reihe gekriegt. Das war unter meiner Würde.»
Diesem Erlebnis gehen viele Beschimpfungen und Anfeindungen voraus. Angst hatte er nie. Nicht einmal als er mit seiner Frau im Auto von Fans durchgerüttelt wurde. «Meine Frau hatte Angst, das hat mir gereicht.» Reifs Schmerzgrenze liegt «anderswo». Das hat er ansatzweise auch seiner schicksalshaften Familiengeschichte zu verdanken. «Ja, kann sein, dass ich dadurch wusste, was wirklich weh tun kann und was nicht.»
Sein Vater wurde gerettet
Reif kommt als Sohn einer schlesischen Katholikin und eines galizischen Juden zur Welt. Sein Vater, ein Holocaust Überlebender. «Ich habe mit meinem Vater nicht darüber gesprochen, weil er nicht darüber sprechen wollte», erzählt Reif. Reifs Vater wurde damals aus einem Güterwaggon in Richtung Vernichtungslager gerettet. Seine Grosseltern, Onkel und Tanten nicht. «Die Geschichten, die mein Vater mir hätte erzählen können, die brauchte ich nicht, um zu wissen, was geschehen war».
Bis heute zappt er noch immer weg, wenn es im TV um den Holocaust geht. «Ich will meinen Grossvater nicht auf einem dieser Leichenberge liegen sehen. Das ertrage ich nicht.» Reif nimmt seinem Vater seine Verschwiegenheit in keiner Weise übel. Er habe ihm und seiner jüngeren Schwester dadurch eine unbeschwerte Kindheit ermöglicht. «Er wollte nicht, dass wir in jedem Bäcker, Postboten und Lehrer einen Täter sehen.»
Nachdem die Reifs Polen 1956 wegen erneut aufkommendem Antisemitismus in Richtung Israel verlassen, ziehen sie eineinhalb Jahre später nach Deutschland. Und Marcel Reif beginnt beim 1. FC Kaiserslautern zu kicken.
Ein Lied weckt Erinnerungen
Wer denkt, dass seine Fussball-Verrücktheit, wie er sie auch selber nennt, erst da angefangen hat, der irrt. In der Warschauer Pepsi-Arena hat sein Vater damals «einen Knopf erwischt, der dann immer gedrückt geblieben ist», sagt Reif und schmunzelt. Mit vier Jahren nimmt ihn sein Vater mit an ein Spiel. Reif erinnert sich auch an viele Details neben dem Platz. «Ich erinnere mich an die Musik, die in der Halbzeit gespielt wurde. Die hat sich bei mir eingebrannt. Das war so ein läppisches Lied, ‹BRAZIL› – ein Gassenhauer. Aber immer wenn ich es höre, bin ich wieder bei diesem Spiel.»
Reif, der mit zwei Religionen aufwächst, prägen seine Eltern auch kulturell. Die Werte, die er mitnimmt sind den Religionen aber nicht direkt unterzuordnen. «Ich habe das genommen, was mir mein Vater und meine Mutter gegeben haben, ob das jetzt jedes Mal den jüdischen oder katholischen Stempel drauf hatte, das habe ich nicht untersucht», so Reif.
Diesen Wertekatalog gibt er auch seinen drei Söhnen Jan, Nick und Tim mit. Und: Fussballverrückt seien auch die drei Jungs. Und nicht nur sie: «Mein kleiner Enkel, der ist jetzt neun. Und wenn Bayer Leverkusen verliert, dann musst du ihn trösten», erzählt Reif und fügt beruhigt an: «Ich werde also ins Grab steigen und der Fussball wird seine Rolle in der Familie behalten.»
Er weiss, dass er es noch kann
Und wie sieht es mit seiner Rolle als umstrittener TV-Experte und Kommentator aus? «Es gibt genug Leute, die fragen, warum lässt er uns nicht endlich in Ruhe mit 70. Aber irgendjemand findet es immer noch richtig, dass ich das mache und bezahlt mich, weil er glaubt, dass er davon einen Effekt erzielt, der für ihn positiv ist», sagt Reif und meint abschliessend: «Noch weiss ich, dass ich das kann, was ich da mache. In dem Moment, wo ich zum ersten Mal merke, es gibt bedeutende Lücken oder die Sache interessiert mich nicht mehr so sehr, dann werde ich auch die Menschen von meiner beruflichen Expertise befreien.»