Der Deutsche Fussball-Bund eröffnet diese Woche die Ausstellung «50 Jahre Wembley-Tor» und wird hoffentlich ein Mahnmal enthüllen, damit so etwas nie wieder passiert. Aber auf jeden Fall haben die Engländer noch vor ihren parallel geplanten Feierlichkeiten gleich einen Dämpfer erhalten: Das Auktionshaus Sotheby’s wollte das Trikot versteigern, in dem Geoff Hurst im WM-Final 1966 Deutschland mit drei Toren erledigt hat. Aber keiner kauft es. Es ist ein Ladenhüter.
Das ist erstaunlich, denn solche Erinnerungsstücke laufen normal wie geschmiert. Bei Julien’s Auctions kamen kürzlich alte Pokale und Medaillen des Fussballkönigs Pelé unter den Hammer, und Souvenirjäger liessen fast fünf Millionen Dollar springen. In New York werden momentan Muhammad Alis Boxhandschuhe aus seinem Jahrhundertkampf 1971 gegen Joe Frazier versteigert, und 836'500 Dollar brachten schon die ein, mit denen der Grösste anno 1964 Sonny Liston entthronte.
Spätestens 50 Jahre nach einer Weltsensation verkauft jeder halbwegs anspruchsvolle Souvenirjäger Haus und Hof für ein Stück Hauch von damals, aber 50 Jahre nach dem 30. Juli 1966, dem bis heute einzigen grossen Tag des englischen Fussballs, ging für das auf 600'000 Franken geschätzte Heldenhemd von Hurst nicht einmal das Mindestangebot ein. «Finger weg!», rufen alle und fassen dieses rote Stück Stoff mit der 10 nicht einmal mit der Kneifzange an, als ob Blut daran klebt. Dabei sind es nur Hursts Schweiss und die Tränen von Hans Tilkowski, Willi Schulz, Siggi Held oder Uwe Seeler. Die vier eröffnen am Sonntag die Ausstellung in Dortmund.
Und wenn sie von Hursts Hemdenflop hören, werden sie hinaufzwinkern zu Helmut Haller († 2012),und dieses unvergessene Schlitzohr aus Augsburg wird sich da oben im Himmel mit seinem alten Lausbubengrinsen auf die Schenkel klopfen und den Gassenhauer «Souvenirs, Souvenirs» von Bill Ramsey trällern.
Schiedsrichter liess Haller gewähren
Es gibt jenes berühmte Foto, wie «Uns Uwe» nach dem Abpfiff mit hängendem Kopf vom Platz trottet und fast gestützt werden muss von einem englischen Bobby. Aber jetzt die gute Nachricht: Im selben Moment klaut Haller den Ball und macht sich damit aus dem Staub. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst, offenbar vom schlechten Gewissen geplagt, liess Haller gewähren. Obwohl es zu seiner Pflicht gehört hätte, das Objekt zu sichern.
Haller und der Ball, wie ein roter Faden zog sich diese Liebesgeschichte durchs ganze Spiel. Der blonde Schwabe, der das sagenhafte Mittelfeldtrio Haller-Beckenbauer-Overath krönte, war ein Streichler des Balls, zärtlich versenkte er ihn zunächst zum 1:0 im englischen Tor, und am Ende wurden die beiden vollends unzertrennlich.
Der «Diebstahl» ist durch Bilder belegt: Mit dem unter den Arm geklemmten Ball macht Haller in der Loge den Knicks vor der Queen, und beim Abschlussbankett lässt er die Heiligen Drei Könige ihre Autogramme draufschreiben: Brasiliens Pelé, Portugals Eusebio und Englands Bobby Charlton.
Helmut Haller war ein Meister der Wertanlage. Er wusste: Was er sich da unter den Nagel gerissen hatte, war der berühmteste Ball der Fussballgeschichte, der Ball, der nicht drin war.
Damit sind wir bei dieser verfluchten 101. Minute. Geoff Hurst schiesst, der Ball knallt an die Latte – und nach unten. Vor die Linie? Auf die Linie? Hinter die Linie?
Schiedsrichter Dienst, der Postbeamte aus Basel, weiss es nicht. Sein Linienrichter Tofik Bachramov, ein Schnauzbart aus Baku, weiss es auch nicht, er stochert mit der Stange im Nebel, brüllt aber Dienst plötzlich an: «Is gol, gol, gol!»
3:2. Das Tor des Jahrhunderts ist gefallen. Selbst Geoff Hurst ist später unsicher. («Tor? Eher nicht»), und irregulär ist auf jeden Fall sein 4:2, denn bei diesem letzten Konter muss er an englischen Fans vorbeisprinten, die schon feiernd das Spielfeld bevölkern. Dieses Chaos nutzt dann Helmut Haller, der mit allen Wassern gewaschene Italo-Profi, zum Stehlen des Balls.
In Augsburg schenkt er ihn seinem Sohn Jürgen zum fünften Geburtstag, und der übt damit so fleissig im Garten, dass er es später zum Bundesligaspieler bringt. Manchmal leiht Haller den Ball auch aus, zu Festen, Ausstellungen und Firmenjubiläen. Doch dann, dreissig Jahre danach, kratzen sich die Engländer als Gastgeber im Vorfeld ihrer EM 1996 am Kopf und fragen: «Wo ist eigentlich unser WM-Ball?»
«Ich habe ihn nicht», schwört Hurst. Als dreifacher Finaltorschütze hält sich der von der Königin zum Ritter geschlagene Sir Geoffrey plötzlich für den rechtmässigen Besitzer, und als er auch noch fast schluchzend vermeldet, dass er dem Ball «einen Ehrenplatz in meinem Haus» geben will, zieht die englische Revolverpresse in den Krieg und startet im Rahmen einer emotional aufgewühlten Kampagne die grosse Heimholaktion.
Irgendwann im April 1996 ist es dann so weit. Hallers Sohn bucht im Flugzeug zwei Plätze nach London, auf dem einen sitzt er, auf dem anderen der Ball, und der wird nach der Landung von Hurst im Blitzlichtgewitter der Kameras geküsst. Danach landet er in einer Vitrine auf der «Waterloo Station», und gut eingefettet krönt er inzwischen das National Football Museum in Lancashire.
Hatte Haller ein Herz für Hurst und die Engländer? Glaubhafter klingt die These, eine patriotische englische Investorengruppe habe an den pfiffigen Augsburger eine Lösegeldzahlung von 200'000 Franken geleistet, das Boulevardblatt «Sun» schäumte jedenfalls: «Dieser gierige Kraut.»
Helmut Haller war dank des WM-Balls der materielle Sieger, kein Souvenir jenes 66er-Finals war wertvoller, obwohl etliche englische Endspielhelden aufgrund gesundheitlicher und finanzieller Not ihre WM-Goldmedaillen später versilbert haben. Mit vielen meinte es das Schicksal nicht gut, Kapitän Bobby Moore starb an Krebs, Alan Ball an einem Herzinfarkt, Torwart Gordon Banks verlor bei einem Unfall ein Auge, und George Cohen, Ray Wilson, Martin Peters, Jack Charlton und Nobby Stiles erkrankten an Alzheimer. Als Stiles auch noch an Krebs litt, verkaufte er sein Trikot für 75'000 Pfund.
Das von Hurst will keiner. Nicht einmal Englands Fussballverband hat mitgeboten. Sind die Engländer als Erfinder des Fairplays so pingelig, dass sie dieses fragwürdige Hemd meiden wie der Teufel das Weihwasser, muss man ihre Verweigerungshaltung werten als spätes Eingeständnis dafür, dass der Ball nicht drin war?
Für Sir Geoffrey ist das alles jedenfalls ziemlich blamabel, und neidisch blickt er samt Sotheby’s nach
München, denn dort fanden sich neulich problemlos Käufer, als Adolf Hitlers Socken, Eva Brauns burgundrotes Sommerkleid und Hermann Görings seidene Unterhose versteigert wurden.