Fifa-Schiri Al-Kadri über das Leid in seiner Heimat Syrien
«Wir hörten ständig die Bomben»

Der Syrier Hamdi Al-Kadri (51) war Schiri an der Fussball-WM 2006. Dann brach in seiner Heimat der Krieg aus und Al-Kadri musste mit seiner ­Familie nach Deutschland flüchten. Jetzt pfeift er ­wieder. In den untersten Ligen.
Publiziert: 26.12.2016 um 13:41 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 01:20 Uhr
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Der Syrier Hamdi Al-Kadri war Schiri an der Fussball-WM 2006.
Foto: REUTERS
Daniel Leu

Herr Al-Kadri, der 22. Oktober 2016 muss für Sie ein besonderer Tag gewesen sein!
Hamdi Al-Kadri: Ja, an jenem ­Datum leitete ich mein erstes Spiel in Deutschland, A-Klasse, Kreis Neumarkt/Jura, DJK-SV Pilsach gegen DJK-SV Oberwiesenacker.

Wie schön war es, wieder auf dem Platz zu stehen?
Sehr schön! Endlich konnte ich wieder das tun, was ich mein ­ganzes Leben lang gemacht habe: Schiedsrichter sein.

Lassen Sie uns die Zeit 40 Jahre zurückdrehen. Wie wuchsen Sie in Syrien auf?
Ich bin in einer zehnköpfigen Familie gross geworden. Wir führten ein normales, glückliches Leben. Als Jugendlicher spielte ich selbst vier Jahre lang Fussball. Wegen einer Verletzung musste ich dann leider aufhören.

Wie kam es, dass Sie dann Schiedsrichter wurden?
Ich war damals als Sportlehrer in einer Schule in Damaskus tätig. Wenn wir Fussball spielten, leitete ich jeweils die Spiele. Das machte mir grossen Spass. Deshalb kam in mir der Wunsch auf, das dauerhaft zu machen.

Hatten Sie Vorbilder?
Es gab zwei syrische Schiedsrichter, die an Weltmeisterschaften teilnahmen: Farouq Bozo 1978 und ­Jamal Al Sharif 1986. Diese zwei waren Motivation für mich. 1997 wurde ich schliesslich selber Fifa-Schiedsrichter.

Sie pfiffen an den Olympischen Spiele 2008 und waren an der WM 2006 im Einsatz. Welche ­Erinnerungen haben Sie an diese beiden Grossanlässe?
2008 war sehr speziell, weil es an Olympischen Spielen nicht nur um Fussball geht und man dadurch ­viele bekannte Personen sieht. Die WM in Deutschland war besonders schön, weil es meine erste WM war, an der ich als Schiedsrichter teilnehmen durfte. Alles war perfekt organisiert, und die Zuschauer ­waren wunderbar.

2011 brach in Ihrer Heimat der Bürgerkrieg aus. Wie haben Sie das erlebt?
Ich war damals Mitglied des ­syrischen Fussballverbandes. Meine Aufgabe war es – zusammen mit ­anderen – dafür zu sorgen, dass es keine Störungen während der Spiele der heimischen Liga gibt. Schon damals herrschte grosse Angst, dass es zwischen den Zuschauern und den Polizisten im Stadion Auseinandersetzungen geben könnte. Zu der Zeit gab es in Syrien bereits überall friedliche Demonstrationen. Leider ging die Polizei dagegen sehr ­aggressiv vor. Es kam ­deshalb ­soweit, dass alle Fussballaktivitäten eingestellt wurden und wir unsere Arbeit verlassen mussten.

2012 entschieden Sie sich deshalb, mit Ihrer Familie von Damaskus nach Jordanien zu flüchten.
In Syrien wurde es immer schlimmer und aggressiver. Meine Kinder hatten einen weiten Schulweg, der immer gefährlicher wurde. Wir hatten grosse Angst. Um unsere vier Kinder zu schützen, entschlossen wir uns, nach Jordanien zu ­fliehen.

Wie gefährlich war diese Flucht?
Der Weg von Damaskus nach ­Amman in Jordanien war sehr gefährlich. Ständig hörten wir die Bomben und die Geschosse.

Lebten Sie in Jordanien in einem Flüchtlingscamp?
Glücklicherweise nicht, wir konnten bei einem Freund in einer Wohnung unterkommen.

2015 flüchtete Ihre Frau mit den älteren beiden Kindern nach Deutschland. Warum blieben Sie mit den beiden jüngeren Kindern in Jordanien?
Es war eine schwierige Entscheidung, die Familie zu trennen. Aber unsere beiden jüngsten Kinder ­waren erst 8 und 14 Jahre alt. ­Zudem konnte ich die Flucht übers Meer nicht mitmachen, weil ich grosse Probleme mit der Überquerung von Wasser habe. Deshalb hatten wir uns gemeinsam schweren Herzens entschieden, dass meine Frau mit den beiden ältesten Kindern, die 16 und 17 waren, die Flucht nach Deutschland antreten soll.

Wie sah diese Flucht genau aus?
Der Fluchtweg führte mit dem Boot von der Türkei nach Griechenland und dann zu Fuss und später mit dem Zug über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Das alles war für ­meine Frau und die beiden Kinder sehr schwierig und anstrengend, von den Gefahren unterwegs gar nicht zu sprechen. Manchmal gab es tagelang nichts zu essen und fast nichts zu trinken. Sie wussten oft gar nicht, welcher Tag oder welche Uhrzeit es war und wo sie sich gerade befanden. Sie hatten ständig grosse Angst. Es dauerte insgesamt 20 Tage, bis sie in Deutschland ankamen.

Standen Sie während der Flucht in Kontakt mit Ihrer Familie?
Das war sehr schwierig. Ich machte mir deshalb grosse Sorgen, weil ich nicht wusste, wie es ihnen ging oder wo sie gerade waren.

Diesen August durften Sie und Ihre beiden jüngeren Kinder dank des Familiennachzugs mit dem Flugzeug nach Deutschland einreisen.
Endlich sahen wir uns wieder, ­exakt ein Jahr und einen Tag, nachdem wir uns in Jordanien getrennt hatten.

Das Wiedersehen muss unglaublich gewesen sein.
Es war sehr schön, meine Familie wieder um mich zu haben. Ich kann das gar nicht beschreiben. Wir ­haben alle geweint, dieses Mal aber, weil wir alle sehr glücklich waren.

Sie leben jetzt seit vier Monaten in Deutschland und haben mit ­Ihrer Familie vor kurzem eine ­eigene Wohnung bezogen. Wie sieht Ihr Leben aus?
Wir sind natürlich alle sehr glücklich, dass wir in Deutschland leben dürfen. Alle meine Kinder gehen zur Schule. Meine beiden Ältesten sprechen schon sehr, sehr gut Deutsch. Ich selbst besuche seit kurzem einen Integrationskurs, um die Sprache und die Kultur des ­Landes zu erlernen.

Und seit Oktober sind Sie wieder als Schiedsrichter tätig.
Ja, Ziele als Schiedsrichter habe ich aber keine mehr. Wegen meines Alters kann ich keine ­höheren Klassen mehr pfeifen. Meine Hoffnung ist es aber, vielleicht eines Tages meine Erfahrungen im Bereich Fussball an junge Talente weitergeben zu können.

Was wünschen Sie sich und Ihrer Familie für die Zukunft?Dass jeder Mensch auf dieser Welt die Möglichkeit bekommt, ein normales, friedliches und glückliches Leben führen zu ­dürfen. Und natürlich möchte ich irgendwann wieder einmal nach Syrien fahren, um den Rest meiner Familie zu sehen. Aber erst, wenn es dort wieder Frieden, Sicherheit und Freiheit gibt.

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