«Schalke ist unser Leben»
Die faszinierende Geschichte eines unglaublichen Klubs

Er betrog im Bundesliga-Skandal, er gewann den Uefa-Cup, er litt als Meister der Herzen – nun verkam der FC Schalke 04 zum Gespött Fussball-Deutschlands. Christian Gross muss die Not eines hoch emotionalen Klubs lindern.
Publiziert: 27.12.2020 um 11:17 Uhr
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Aktualisiert: 27.12.2020 um 14:11 Uhr
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Fussball ist unser Leben, Deutschland 2000, Regie: Tomy Wigand, Darsteller: Uwe Ochsenknecht.
Foto: imago/United Archives
Michael Schifferle

Wer wissen will, was Schalke ist und wie Schalke fühlt, sollte von Karl Heinz Neumann erfahren. Charly nannten sie ihn, den gelernten Bäckermeister, der 2008 zwar 77-jährig starb und doch bis heute die Schalker Seele berührt. 1950 trat er dem Klub bei und brachte Ernst Kuzorra, dem «Grössten aller Schalker» vom berühmten Kreisel, jeweils die Brötchen. Er war Jugendleiter, Mannschaftsbetreuer – und wie er einem englischen Reporter mal sagte: «The Maskottchen of Schalke.»

Beim Abstieg heulte er mit den Fans in die Kameras und tröstete sie gleichzeitig. Und nach einem Aufstieg strich er den Bahnhof in Gelsenkirchen blau-weiss – bis er verhaftet wurde. Er war die Verkörperung des Ruhrpotts, lebensecht, sympathisch. Er arbeitete zwar nie in einer Zeche. Hätte er jedoch behauptet, es zu tun – jeder hätte ihm geglaubt. Das Steigerlied, das den Arbeitern im Bergbau huldigt und im Schalker Stadion gespielt wird, sang er hingebungsvoll mit.

Man nahm ihm den Malocher ab. Er war froh, durfte er den Spielern die Schuhe putzen. Und als der Klub mal wieder in Geldnot war, liess er seinen «Babbelbauch» (O-Ton Charly) für eine Kampagne von «Figura Fit» einspannen: Nimmt er in drei Monaten 30 Kilo ab, kriegt Schalke 300 000 Mark. Nach drei Monaten wurde er im Stadion öffentlich gewogen. Und Schalke kassierte. Ehrensache, dass er sich das Gewicht nachher wieder anfrass.

«In schlechten Zeiten müsst ihr Schalker sein. In Guten haben wir genug davon», sagte Neumann mal. Er traf den Ton: Die Arena auf Schalke ist mit 60 000 Zuschauern immer randvoll. Und sie wäre es ohne Corona auch jetzt – 29 sieglosen Spielen zum Trotz.

Der Bundesliga-Skandal

Schlechte Zeiten mussten die Fans schon viele erdulden. Schalke ist Teil des schäbigen Bundesliga-Skandals. Im April 1971 verlieren die Schalker absichtlich gegen die abstiegsbedrohte Arminia aus Bielefeld 0:1. Einzig Torwart Dieter Burdenski brilliert, weil er nichts von der Bestechung weiss. Ein Mitspieler ruft während des Spiels: «Mensch, Budde, nun geh doch mal zur Seite.»

2300 Mark bekommt jeder Spieler nach dem Spiel. Nichts im Vergleich zum verheerenden Reputationsverlust, den der Verein erleidet – und mit ihm Spieler wie Klaus Fischer, Klaus Fichtel oder Reinhard «Stan» Libuda. Herausragend sind sie allesamt, bestechlich aber auch.

Der Pokalsieg 1972 ist der einzige nationale Titel bis ins neue Jahrtausend. Und nicht wenige glauben, dass diese Mannschaft die Bayern und die Gladbacher hätte im Titelkampf gefährden können. Stünde ihr die persönliche Gier nicht im Weg.

Abgestreift hat Schalke sein Image bis heute nicht. Darin liegt aber auch der Reiz dieses Klubs, der auch darum betört, weil er keine unendliche Erfolgsstory ist wie der FC Bayern, kein Marketing-Vehikel wie RB und keine Werkself wie Leverkusen oder Wolfsburg – sondern eine Geschichte mit tiefen Brüchen. Einer sagte mal: «Auf Schalke menschelt es noch mehr als überall sonst.»

Auch darum kam 1999 das Leben eines Schalke-Fans mit Uwe Ochsenknecht in der Hauptrolle ins Kino. Ob Schalke aber wirklich auch eine Religion ist, wie oft behauptet wird? Ansichtssache. Papst Johannes Paul II war jedenfalls ab 1987 offizielles Klubmitglied.

Schalke war immer Tummelplatz von grossen Persönlichkeiten, manche von ihnen mit Hang zur Selbstinszenierung: Den Klinikbesitzer Günter Eichberg nannten sie den «Sonnenkönig», und als Ex-Profi Helmut Kremers 1993 nach dem Präsidententhron griff, reichte ihm ein kesser Spruch gegen den Erzrivalen zur Wahl: «Wenn wir früher gegen Dortmund gespielt haben, haben wir uns dafür nicht mal umgezogen.»

Macho Assauer wollte Gross holen

Einer aber brachte Ruhe in den Laden: Rudi Assauer. 18 Jahre war er Manager auf Schalke, zum zweiten Mal von 1993 bis 2006. Er gilt als Architekt des modernen Schalke, als einer der Väter der Arena. Eine Werbeikone («nur gucken, nicht anfassen») war er, die Schalkes Sponsoring-Einnahmen hochtrieb, einen seriösen Anstrich gab – und sportlich erfolgreich wie kein anderer nach dem Zweiten Weltkrieg war. Uefa-Cup-Sieg 1997, DFB-Pokale 2001 und 2002. Zweite Plätze 2001 und 2005. Huub Stevens, der taktisch brillante Grantler, war sein Partner. 2003 übrigens wollte Assauer Christian Gross bereits nach Schalke holen. Der aber blieb in Basel.

Den Meistertitel errangen Stevens und Assauer nicht, dafür aber den Titel als «Meister der Herzen». Wie Assauer, der das Image des Machos genüsslich kultivierte, nach dem in letzter Sekunde verpassten Titel mit Tränen in den Augen sagte: «Ich glaube nicht mehr an den Fussball-Gott» – auch das sind Bilder, wie sie Schalke ausmachen. Dortmunder würden höhnen: Bilder von Verlierern.

Fleischbaron sorgte für Rassismus-Eklat

Ein anderer war Clemens Tönnies. Der Fleischbaron und Milliardär war nach Assauers Abgang der starke Mann. Er hielt Schalke zusammen – auch mit regelmässigen Darlehen. Dann rutschte ihm ein unverzeihlicher rassistischer Spruch raus. Promi-Fan und Mitglied Peter Lohmeyer trat sofort aus dem Verein aus. Und in Tönnies' Fabrik gabs eine Häufung von Corona-Fällen. Der Aufsichtsratsvorsitzende, seit 2001 im Amt, musste zurücktreten. Dass er als Chef fehlt und vielleicht auch als Geldgeber – das bestreiten aber nur wenige. Der Klub hat rund 200 Millionen Verbindlichkeiten. Die Mannschaft ist unausgewogen und erfolglos wie nie – nur Tasmania Berlin ist in der Bundesliga-Geschichte noch schlechter. Und der Trainerverschleiss ist immens. Schon zwei flogen seit September: David Wagner und Manuel Baum.

Nun hängen die Hoffnungen von Königsblau an Christian Gross (66). Am sechsfachen Schweizer Meistertrainer liegt es, die Schalker aus der Rolle des Gespötts zu schubsen und den ersten Abstieg seit 1988 zu verhindern. Charly Neumann könnte die Fans nicht mehr trösten.

Bundesliga
Mannschaft
SP
TD
PT
1
Bayern München
Bayern München
10
26
26
2
RB Leipzig
RB Leipzig
10
10
21
3
Eintracht Frankfurt
Eintracht Frankfurt
10
10
20
4
Bayer Leverkusen
Bayer Leverkusen
10
5
17
5
SC Freiburg
SC Freiburg
10
2
17
6
Union Berlin
Union Berlin
10
1
16
7
Borussia Dortmund
Borussia Dortmund
10
0
16
8
Werder Bremen
Werder Bremen
10
-4
15
9
Borussia Mönchengladbach
Borussia Mönchengladbach
10
1
14
10
FSV Mainz
FSV Mainz
10
1
13
11
VfB Stuttgart
VfB Stuttgart
10
0
13
12
VfL Wolfsburg
VfL Wolfsburg
10
1
12
13
FC Augsburg
FC Augsburg
10
-7
12
14
1. FC Heidenheim 1846
1. FC Heidenheim 1846
10
-2
10
15
TSG Hoffenheim
TSG Hoffenheim
10
-6
9
16
FC St. Pauli
FC St. Pauli
10
-5
8
17
Holstein Kiel
Holstein Kiel
10
-13
5
18
VfL Bochum
VfL Bochum
10
-20
2
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