Wie lässt sich das Wunder von Union Berlin erklären? Vielleicht mit einer Analogie zu Asterix und Obelix? Wir schreiben das Jahr 2022. Die ganze Bundesliga wird von den Bayern besiegt. Die ganze Bundesliga? Nein! Ein von unbeugsamen Berlinern bevölkertes Quartier namens Köpenick hat dem deutschen Rekordmeister diese Saison ein 1:1 abgetrotzt und hört nicht auf, dem Liga-Krösus Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die Legionäre aus München. Union Berlin steht nach zwölf Spieltagen immer noch an erster Stelle – gejagt von den Bayern – mit einem Punkt Vorsprung.
Die Geschichte der gallischen Fussballer führt die Fans der Bundesliga zur grossen Frage: Was steckt im Zaubertrank von Union? Wie ist dieser Wahnsinn überhaupt möglich? Blick will es von Urs Fischer persönlich wissen und bohrt in Berlin nach dem 2:1-Sieg gegen Borussia Mönchengladbach nach. Der Trainer freut sich aber zuerst über die Stimme aus der Schweiz. «Jetzt könnten wir ja eigentlich Mundart sprechen», scherzt der 56-jährige Zürcher auf Dialekt – und bringt die versammelte deutsche Presse zum Schmunzeln.
Fischer wechselt nach dem Witz aber zurück auf Hochdeutsch und wird ernst: «Das kann ich nicht erklären.» Er zuckt dabei mit den Schultern, schiebt dann mit einem spitzbübischen Lächeln nach: «Diese Mannschaft geht in jedem Spiel an ihre Grenze. Vor allem hier in unserem tollen Stadion, mit diesen fantastischen Fans, die uns unermüdlich anfeuern.»
Eisern bis zur letzten Sekunde
Bestes Beispiel ist der Heimsieg am letzten Sonntag gegen Gladbach. Gegen Ende der Partie steht es 1:1. Sechs Minuten Nachspielzeit werden angezeigt. Ein Unentschieden würde bedeuten, dass die Berliner hinter den Bayern kleben bleiben. Fischer treibt sein Team nach vorne. Und auch das Publikum an der Alten Försterei peitscht die Mannschaft mit ohrenbetäubenden Ovationen an. «Eisern Union – Eisern Union – Eisern Union» – so schallt es von den 22'000 Fans auf den Rängen. Der legendäre Schlachtruf – entstanden vor dem Zweiten Weltkrieg durch die Schlosserjungs aus der kickenden Arbeiterklasse – löst die nächste Angriffswelle aus.
Gladbach ist völlig überfordert – und mittendrin: Nico Elvedi, der die Fohlen in der ersten Halbzeit mit seinem zweiten Saisontor in Führung gebracht hatte. Dann aber beim Ausgleich nach der Pause keine gute Figur macht. Kurz vor dem Schlusspfiff hat der Nati-Verteidiger erneut alle Füsse voll zu tun. Die Nachspielzeit ist bereits abgelaufen, als der Schiedsrichter noch einen Eckball für die bissigen Berliner ausführen lässt – und in der ausverkauften Arena eine Überdosis Adrenalin auslöst. Ein Kopfballtor bringt den Kessel in Köpenick schliesslich zum Überkochen. «Wir wollten um jeden Preis gewinnen», sagt Siegtorschütze Danilho Doekhi, «und dass ich dann die Entscheidung herbeiführe, ist einfach unglaublich».
«Brutale Willensleistung» als Erfolgsrezept
Es ist die reiche Belohnung für das Risiko und die Dominanz, die Union von Beginn weg betreibt. Und es ist der Moment, der grossen Erlösung, als Fischer vor Freude fast der Rollkragen platzt. «Vielleicht war auch ein bisschen Glück dabei, aber wir haben es uns verdient», sagt er später und lobt den fliegenden Holländer für seinen vehementen Vorstoss. «Das Timing war perfekt.» Der Mann des Spiels bedankt sich seinerseits für das Vertrauen, als Verteidiger so spät so weit vorzustossen. «Fischer ist ein sehr guter Coach. Wir haben eine klare Organisation. Jeder weiss hier, was er zu tun hat.»
Und das bedeutet – nebst der taktischen Ausrichtung – kämpfen, bis zum Umfallen. Etwas anderes bleibt dem Underdog Union laut Fischer gar nicht übrig. «Für uns ist es Voraussetzung für den Erfolg, dass die Mannschaft ans Limit geht.» Was nach vier Jahren unter Fischer dabei rauskommt, nennt Captain Rani Khedira eine «brutale Willensleistung», die er sich als Herz dieser Mannschaft einverleibt hat. «Fischer treibt uns wirklich jeden Tag ans Limit. Er schaut auf jedes Detail und spricht jede Situation im Training an. Er lässt nie locker. Manchmal ist es nervig, aber wir lassen es auch zu, weil wir wissen, dass er uns alle besser macht.»
Hohes Ansehen bei den Anhängern
Dass Fischer die Spieler ständig mit deren Unzulänglichkeiten stichelt, ist ganz nach dem Geschmack der Fans. Schönwetterspieler sind hier fehl am Platz. «Fischer braucht keine Stars, er braucht arbeitende Spieler», so der Tenor auf der Tribüne. «Er hat seine Spieler voll im Griff und die geben immer mehr als hundert Prozent», meint ein kleiner Knirps. «Er hat Ahnung vom Fussball und ein Händchen für Spieler.» Für viele ist Fischer seit dem erstmaligen Aufstieg «ein Held».
Die Bewunderung in Berlin reicht sogar bis in den Tierpark. Dort wurde wegen der borstigen Art und den spitzen Haaren ein Stachelschwein mit dem Namen Urs getauft. «Fischer ist eine coole Sau – ein sozialer Mensch», sagen die Bierfreunde an der Durstlöscherbar vor dem Stadion. «Er passt von der Mentalität extrem gut hier rein. Immer fokussiert auf das nächste Spiel. Einfach geil.» Seine «Bodenständigkeit und Ruhe» machen den Bessermacher aus der Schweiz gar zum «besten Trainer der Bundesliga».
Mannschaft | SP | TD | PT | ||
---|---|---|---|---|---|
1 | Bayern München | 10 | 26 | 26 | |
2 | RB Leipzig | 10 | 10 | 21 | |
3 | Eintracht Frankfurt | 10 | 10 | 20 | |
4 | Bayer Leverkusen | 10 | 5 | 17 | |
5 | SC Freiburg | 10 | 2 | 17 | |
6 | Union Berlin | 10 | 1 | 16 | |
7 | Borussia Dortmund | 10 | 0 | 16 | |
8 | Werder Bremen | 10 | -4 | 15 | |
9 | Borussia Mönchengladbach | 10 | 1 | 14 | |
10 | FSV Mainz | 10 | 1 | 13 | |
11 | VfB Stuttgart | 10 | 0 | 13 | |
12 | VfL Wolfsburg | 10 | 1 | 12 | |
13 | FC Augsburg | 10 | -7 | 12 | |
14 | 1. FC Heidenheim 1846 | 10 | -2 | 10 | |
15 | TSG Hoffenheim | 10 | -6 | 9 | |
16 | FC St. Pauli | 10 | -5 | 8 | |
17 | Holstein Kiel | 10 | -13 | 5 | |
18 | VfL Bochum | 10 | -20 | 2 |