Dienstagnachmittag in der Nähe von Stuttgart, auf dem Kunstrasenplatz des TV Nellingen. Es giesst wie aus Kübeln. Doch das scheint Onur Kinavli in diesem Moment nicht zu stören. Auch nicht, dass sein rechter Oberschenkel zwickt. Kinavli macht das, was er am liebsten macht. Er steht im Tor, hechtet, fällt, rappelt sich wieder auf. «Fussball ist Leben», keucht der 38-Jährige, lacht und pariert sogleich den nächsten Ball.
Dass Kinavli Fussball-Goalie ist, grenzt an ein Wunder, denn er ist beinahe blind. Auf dem linken Auge sieht der Deutsch-Türke gar nichts mehr, auf dem rechten nur noch zehn Prozent. «Mit Brille oder Linse käme ich beim rechten auf 38 Prozent, doch beides würde mich beim Spielen nur stören», erklärt er.
Kinavli leidet unter einer sogenannten Retinoschisis, einer genetisch bedingten Spaltung der Netzhaut. Diese bekommt dadurch Löcher und sorgt dafür, dass weniger Informationen zum Gehirn gelangen. Die Folge davon: der Verlust des Augenlichts.
Die Diagnose erhielt er nach der Einschulung. Als Kind wurde er deshalb gleich dreimal operiert und hätte auf vieles verzichten müssen. Hätte. «Die Ärzte sagten, ich dürfte wegen des Chlors im Wasser nicht schwimmen, wegen der Laser-Effekte nicht in die Disco und wegen der Gefahr eines Unfalls nicht Fussball spielen. Doch ich hielt mich nie daran. Ich wollte was erleben und bin deshalb immer meinem Herzen gefolgt.»
Trotzdem, die Zeit als Teenager war schwierig für den gebürtigen Berliner. Sein Lehrer wollte ihn in eine Schule für Sehbehinderte schicken, und im Fussballklub sass er meist nur auf der Bank, obwohl er an jedem Training teilnahm und mindestens so gut wie seine Teamkollegen war. Doch Kinavli liess sich nie behindern. «Ich ging trotzdem auf eine normale Schule, und weil ich im Verein selten zum Einsatz kam, gründete ich halt meinen eigenen. Dort konnte mir niemand verbieten zu spielen.»
«Die Gefahr einer kompletten Erblindung ist gross»
Das war 2004. Damals wurde der Klub Betonspor ins Leben gerufen. Was bedeutet der Name? Kinavli lacht. «Der stammt von meiner Mutter. Sie meinte, ihr seid eh alles Betonklötze, dann nennt euch doch auch so.» Seit 2007 spielt der Verein in der württembergischen Freizeitliga. Gekickt wird auf Kleinfeldern, sechs gegen sechs. Mittlerweile wurde das Team schon zweimal Meister.
Mit dem fast blinden Onur Kinavli als Stammgoalie. Doch wie geht das überhaupt? Was sieht er und was nicht? «Diese Fragen werden mir häufig gestellt. Sie zu beantworten, ist nicht einfach, weil ich ja nicht weiss, wie es wäre, normal zu sehen. Ich bin während des Spiels einfach aufs Wesentliche fokussiert und nehme vieles Unwichtige gar nicht wahr. Teamkollegen haben mir auch schon gesagt: ‹Du hältst so gut. Wie stark wärst du erst, wenn du richtig sehen könntest?›»
Doch es gibt auch Situationen, in denen der gelernte Kaufmann wegen seines Handicaps Probleme hat. «Bei langen Bällen, weil ich die Tiefe nicht richtig einschätzen kann. Oder bei Ecken von rechts, denn dann schaue ich ja zum Schützen und kann links von mir die Gegenspieler nicht richtig sehen.»
Seine Stärke: das Parieren von Penaltys. Seine Erfolgsquote liegt bei rund 50 Prozent. «Auch das ist schwierig zu erklären. Ich verlasse mich komplett auf meine Intuition und liege so oft richtig.»
Während des Spiels muss Kinavli zusätzlich darauf achten, dass er keinen Ball an sein rechtes Auge kriegt. «Die Gefahr, dass ich dadurch komplett erblinden könnte, ist gross. Sollte das passieren, wäre es wenigstens beim Ausüben meiner Leidenschaft geschehen.»
«Mein Klub hat mich vom Springen abgehalten»
Sein Klub Betonspor hat Onur Kinavli sogar das Leben gerettet. Und zwar wortwörtlich. 2017 gerät er in eine schwere Lebenskrise. Scheidung, Depressionen, gesundheitliche Probleme, Gewichtszunahme auf 135 Kilo. Eines Tages steht er in Esslingen auf der Pliensaubrücke. Er schliesst die Augen, wartet auf den nächsten Zug. Er ist bereit zu springen, will sich das Leben nehmen.
«Als ich die Augen schloss, tauchte vor meinem geistigen Auge plötzlich das Logo meines Vereins auf. Ich sah meine Eltern, meinen Bruder, meine Teamkollegen und die Spiele, in denen wir Erfolg hatten», erzählt Kinavli. «Mir wurde auf einmal bewusst: Wenn ich jetzt springe, wäre das alles vorbei. Die ganze Arbeit und das ganze Herzblut, das ich reingesteckt habe. Die Integrationsarbeit, die Flüchtlinge, die bei uns beim Fussballspielen endlich wieder lachen konnten und denen wir dadurch eine Perspektive gaben. Betonspor hat mich vom Springen abgehalten. Ohne Fussball wäre ich heute tot.»
In diesem Moment ist für Kinavli klar: Ich möchte leben. Er fährt nach Hause, setzt sich hin und entscheidet: Ab jetzt ist alles anders, ich lasse mich nicht mehr unterkriegen, ich setze mir neue Ziele. Er nimmt danach innert kürzester Zeit 50 Kilo ab, denkt wieder positiv. «Wenn der Kopf stimmt, kriegst du alles hin.»
Heute, knapp fünf Jahre später, sind die Selbstmordgedanken von damals weit weg. «Ich muss regelmässig über die Pliensaubrücke laufen. Dabei bin ich ganz entspannt, denn nun schaue ich nach vorne und freue mich auf neue Herausforderungen. Im Fussball und im Leben.»