«Meine Frau wünscht sich eine andere Frisur»
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Gilbert Gress beim Coiffeur:«Meine Frau wünscht sich eine andere Frisur»

Fussball-Legende Gress wird 80
«Ich hoffe, ich habe noch zehn schöne Jahre!»

Gilbert Gress, eine der schillerndsten Figuren des Fussballs, wird 80 Jahre alt. Ein Besuch in seiner Elsässer Heimatstadt Strasbourg.
Publiziert: 17.12.2021 um 00:34 Uhr
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Aktualisiert: 17.12.2021 um 10:34 Uhr
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Besuch bei Trainer-Legende Gilbert Gress in Strasbourg.
Foto: BENJAMIN SOLAND
Felix Bingesser (Text), Benjamin Soland (Fotos) und Sebastian Rieder (Video)

Pünktlich steigt Gilbert Gress an diesem bitterkalten Morgen aus seinem röhrenden Sportwagen in der Rue d’Orbey in Strasbourg. Hier holt er jeden Morgen bei seinem marokkanischen Freund seine Zeitungen. Die «Bild», die französische Sportzeitung «L’Équipe», die Illustrierte «Gala» und die Lokalzeitung «Dernières Nouvelles d’Alsace». Das Bündel liegt wie immer bereit. Der Mann, der am Freitag 80 Jahre alt wird, ist neugierig geblieben, seine Leidenschaft für den Fussball ist ungebrochen. «Wenn man an nichts mehr interessiert ist, dann ist man gestorben», sagt Gress.

«Tour de Gress» durch Strasbourg

Wir starten die Tour durch seine Stadt. «Schauen Sie mal, wie lange der braucht, bis der da vor mir bei Grün losfährt», schimpft Gress bei der ersten Ampel und wippt mit den Fingern auf dem Steuerrad. Gilbert – oder «Schilles», wie ihn die Elsässer nennen – ist unter Strom. Wie eh und je. Er gestikuliert, spricht ohne Punkt und Komma und erzählt Anekdote nach Anekdote aus seinem bewegten Leben. Und er betätigt gleichzeitig die Hupe, wenn es nicht vorwärtsgeht.

In der Strasse, in der alles begann, wird er nachdenklich. «Hier stand mein Elternhaus», sagt er. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gab es in Strasbourg immer öfter Bombenalarm. Dann nahm Mutter Gress ihre beiden Söhne an der Hand und eilte beim Nachbar in den Schutzraum. Die ersten Jahre im gebeutelten Strasbourg waren schwierig.

«Mein erster Chef würde heute ins Gefängnis kommen»
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Aber bald kam der Fussball. «Es gab drei Autos im ganzen Quartier. Der Rest war unsere Spielwiese», sagt Gress. «An dieser Hausmauer haben wir ein Tor aufgemalt», deutet er, «und hundert Meter weiter vorne ein zweites. Und in dieser engen Gasse haben wir Eins-gegen-eins gespielt, wenn niemand sonst rausdurfte.» Aber normal ist, dass ein Quartier gegen ein anderes spielt. Er spielt für Neudorf. Sein Quartier ist stark. Nicht nur wegen des kleinen, wirbligen «Schilles». «Acht Spieler aus meiner Strasse haben später den Sprung zu Racing Strasbourg geschafft. Es gibt wohl keine andere Strasse auf der Welt, aus der acht Spieler aus der gleichen Generation den Sprung in eine grosse Mannschaft geschafft haben.»

Weiter vorne sind der Kindergarten und die Schule. Und gleich nebenan steht die katholische Kirche. «Hier bin ich mit meinen Eltern jeden Sonntag um sieben Uhr in die Frühmesse. Und hier habe ich geheiratet. Das war vor 57 Jahren. Seine Frau kommt aus den gleichen Quartier. Eine Jugendliebe. Sie sind immer noch unzertrennlich. «Ich bin ein treuer Mensch. Seit 57 Jahren verheiratet. Und 25 Jahre war ich bei Strasbourg als Spieler und Trainer. Und 15 Jahre bei Xamax als Spielertrainer und Trainer. Das sagt doch alles, oder?»

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Ja, es sagt vieles über den quirligen Mann, den man erfinden müsste, wenn es ihn nicht gäbe. Er hat einst mit dem legendären Manager Robert Schwan auf einem Feldweg im Auto und in Anwesenheit seiner Frau über ein Engagement bei Bayern München verhandelt und ist trotzdem beim VfB Stuttgart geblieben. Er hätte zu Paris Saint-Germain wechseln können. Er hat als Trainer Barcelona die kalte Schulter gezeigt und hat Dortmund abgesagt. Wenn er das aufzählt, dann blitzt seine legendäre Eitelkeit auf. Er liebt das Scheinwerferlicht. Er pflegt seine Extravaganz. Was ihm auch schon den Vorwurf eingetragen hat, er sei bald die Karikatur seiner selbst.

«Ich bin doof»

Bereut er, dass er nie zu einem Weltklub gegangen ist? «Meine Frau sagt, ich hätte mehr aus meiner Karriere herausholen können. Ich bin zufrieden. Ich konnte viele Menschen glücklich machen. Ich bereue nur, dass ich nicht länger bei der Schweizer Nationalmannschaft geblieben bin und damals den neuen Zweijahresvertrag nicht unterschrieben habe. Das war ein Fehler.» Gress hat Verbandspräsident Marcel Mathier sitzen lassen und ist zum vereinbarten Termin nicht erschienen. Hans-Peter Zaugg musste interimistisch übernehmen. Warum Gress das getan hat? «Weil ich doof bin. Eine andere Erklärung habe ich nicht.»

Wir fahren weiter. In die Innenstadt. «Dort ist die Firma Heppner. Da habe ich meine Lehre in der Buchhaltung gemacht. Als Vierzehnjähriger. Meist hatten wir eine Sechstagewoche, im Monat hatte ich manchmal fünfzig Überstunden. Das alles für umgerechnet sieben Euro im Monat. So einen Chef würde man heute ins Gefängnis stecken.»

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Es geht weiter. Eine Enkelin ruft an und erkundigt sich, wie es ihm geht. Gress hat einen Sohn und eine Tochter und vier Enkelkinder. Ein Enkel studiert in Singapur, eine Enkelin lebt in Montreal. «Mit denen unterhalte ich mich via Skype. Und die, die in der Nähe wohnt, kümmert sich rührend um uns.»

Im Zentrum von Strasbourg wird Gress überall erkannt. Da ein Foto, dort ein kurzer Schwatz. 1979 hat Gress Racing Strasbourg zum bisher einzigen Meistertitel geführt. Das war für die rund zwei Millionen Elsässer Balsam auf die gebeutelten Seelen. Für eine Region, die schon immer zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergeschoben wurde, immer ein wenig unter Identitätskrisen leidet und am liebsten unabhängig wäre. «Uns hat man im Rest von Frankreich immer als Bauern und lange Zeit als Nazis beschimpft. Und jetzt werden diese Bauern Meister. Vor Paris, vor Marseille, vor Lyon und Bordeaux. Das haben die Menschen bis heute nicht vergessen», sagt Gress.

15 Monate später nach dem grössten Erfolg der Vereinsgeschichte wird Gress entlassen. Es gibt einen Aufstand der Fans. 20'000 Unterschriften werden gesammelt. Die Stadt will Gress behalten und den Präsidenten entlassen. Es gelingt nicht. Gress geht zu Xamax, und beginnt da eine der grössten Erfolgsgeschichten des Schweizer Vereinsfussballs. Seine Fans in Strasbourg fahren alle zwei Wochen mit drei Autobussen nach Neuenburg.

In der Strasbourger Innenstadt ist auch sein Coiffeur. Gress und seine Frisur. Auch das ist legendär. «Früher habe ich immer gesagt, ich will eine Frisur, wie sie der Schauspieler Alain Delon hat.»

Gress beim Kult-Coiffeur

Kurzhaarfrisuren waren nie ein Thema. Als junger Spieler reiste er vor der WM 1966 mit der französischen Nationalmannschaft für ein Testspiel nach Russland. Er soll sich die Haare schneiden lassen, fordern der Trainer und die Verbandsoberen. Aber er weigert sich und wird nicht eingesetzt. Kaum zurück in Paris, kommt das WM-Aufgebot. Gress fährt nicht mit nach England. «Wir brauchen keine Beatles bei der WM», lässt der Verband verlauten. Am gleichen Tag erhält Gress ein Angebot für einen Dreijahresvertrag beim VfB Stuttgart. «So ist das Leben. Zwei Nachrichten an einem Tag. Eine Achterbahnfahrt», sagt er.

Sein Figaro in Strasbourg heisst Christian Wintz. Wintz hat schon für Shows in New York gearbeitet und gehört, sagt er, zu den 2000 besten Friseuren auf der Welt. Gress bestätigt diese Aussage mit stolzem Kopfnicken. Im Salon kommen hin und wieder auch Touristen und Fans vorbei. «Auch schon Leute aus der Schweiz wollten sehen, wo sich Herr Gress die Haare schneiden lässt», sagt Wintz. Als die Haare geschnitten sind, zieht Gress seinen Kamm aus der Jackentasche. Den letzten Schliff macht er wie immer selber. Alles Eitelkeit? «Nein, Respekt vor den Menschen. Ich stehe im Rampenlicht, da muss man gepflegt sein.»

Wir fahren zu seinen Freunden in sein Lieblingsrestaurant. Da, wo Gress mit seinen alten Kumpels jede Woche Karten spielt. «Er kann auch hier nicht verlieren», sagt der Besitzer des Lokals, der seit 70 Jahren mit Gress befreundet ist. Es wird gegessen, getrunken, übers Elsass und den Fussball philosophiert. Gress ist im Element. Er scherzt, er führt das Wort, er ist der Entertainer im Lokal. Die meisten seiner Freunde sind auch Mitglieder im Lions Club. «Wir unterstützen viele Projekte», sagt Gress. «In Strasbourg gibt es viele soziale Spannungen und auch viel mehr Armut als früher.»

«Schiessen musste ich zum Glück nie»

Es gibt auch die andere Seite. Die reflektierte, die nachdenkliche. Beispielsweise, wenn er von seinem Kriegseinsatz in Algerien spricht. Dort war er in einem Sportbataillon zusammen mit dem grossen Skifahrer Jean-Claude Killy. Im Mai 1961 wird Gress ins Militär eingezogen. Er ist zwanzig Jahre alt, Profi bei Strasbourg. Er fährt an einem Mittwoch nach Paris und denkt, dass er am Wochenende zum Spiel zurück ist. Aber bald sitzt er im Zug nach Marseille und dann auf dem Schiff nach Algerien. Sechs Wochen wird er ausgebildet. Und dann drei Monate in einer kleinen Stadt stationiert. Wache schieben, Patrouillen machen. «Schiessen musste ich zum Glück nie.» Ein Jahr später wird er nochmals für viereinhalb Monate in den Krieg nach Algerien geschickt. Es ist eine belastende Zeit. Was geblieben ist? «Unter der Woche gab es Scharmützel und Argwohn. Am Sonntag dann haben wir gegen die Algerier Fussball gespielt. Und der Krieg war vergessen.»

Jetzt werden Sie 80 Jahre alt, Herr Gress. Denkt man da auch ans Ende? «Als junger Spieler von Stuttgart bin ich einmal nach einem Spiel in Karlsruhe nach Hause gefahren. Meine Mutter hat mir gesagt, dass der Vater schwer an Krebs erkrankt sei. Wenige Tage später ist er mit 61 Jahren gestorben. Seither verfolgt mich der Tod gedanklich jeden Tag», sagt Gress. Aber Sorgen macht er sich nicht. Und über den Tod sinnieren ist nicht sein Ding. Er schaut lieber vorwärts. «Ich bin fit, ich laufe jeden Tag dreimal in den fünften Stock. Und ich habe jeden Monat zehn Termine. Wir verbringen auch viel Zeit in unserer zweiten Wohnung in Neuenburg. Meine Frau möchte eigentlich definitiv nach Neuenburg ziehen. Aber ich hänge an Strasbourg.»

Die Tour durch Strasbourg und sein Leben endet wieder beim marokkanischen Kioskverkäufer. Auf Wiedersehen, Herr Gress. Alles Gute zum 80. Geburtstag! «Danke. Ich bin dankbar. Meinen Eltern, dem lieben Gott und mir. Und ich hoffe, dass ich noch zehn gute Jahre habe.»

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