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Fussball-Koryphäe Erich Vogel über Spielintelligenz
«Die Frauen holen die Fussballer bald ein»

81-jährig und noch immer rastlos: Erich Vogel ist auch mitten in der Corona-Krise auf Trab und entpuppt sich als grosser Frauenförderer.
Publiziert: 30.03.2020 um 20:30 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2020 um 09:39 Uhr
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Steht noch immer voll im Saft: Fussball-Koryphäe Erich Vogel.
Foto: Keystone
Max Kern

BLICK: Sind Sie gesund?
Erich Vogel: Danke für die Nachfrage. Bis zum heutigen Tag, ja. Ich arbeite strikt im Homeoffice und jogge täglich eine Stunde allein im Wald.

Die Spanische Grippe von 1918/19 tobte zwanzig Jahre vor Ihrer Geburt. Welche Bilder haben Sie vom Zweiten Weltkrieg im Kopf? Sie waren am Kriegsende sechseinhalb Jahre alt.
Die Sirenenalarme mitten in der Nacht. In unserem Haus im Zürcher Kreis 4 lebten zehn Familien. Alle mussten sofort in den Luftschutzkeller dislozieren und auf einer Fläche von 15 Quadratmetern warten, bis der Endalarm ausgelöst wurde. Meine Schwester und ich waren die einzigen Jugendlichen. Wir wohnten im fünften Stock. Beim Sturm die Treppe runter war ich immer der Schnellste. Was ich nur vom Hörensagen weiss: Am 22. Dezember 1940 fielen Bomben auf unser Quartier. Der Dodge in der Garage meines Vaters wurde zerstört.

Wie sehr vermissen Sie den Fussball bereits?
Überhaupt nicht. Ich habe endlich mehr Zeit zum Lesen und mir Gedanken über die Zukunft des Fussballs zu machen.

Glauben Sie, dass diese Saison in der Schweiz noch gespielt werden kann?
Ich hoffe es, aber ganz sicher nur Geisterspiele ohne Zuschauer.

Wenn nein, wer soll als Meister gekürt werden? Herbstmeister YB oder der FC St. Gallen, der Leader zum Zeitpunkt des Meisterschaftsabbruchs?
Wenn das Gerechtigkeitsprinzip zum Tragen kommt, dann muss es YB sein. St. Gallen würde ich es aber von Herzen gönnen, denn Sportchef Alain Sutter und Trainer Peter Zeidler beweisen, dass auch mit einem kleinen Budget erfolgreich Fussball gespielt werden kann – und dies ohne wirklich erfahrene Führungsspieler.

Sie verfolgen die Entwicklung des Fussballs seit unzähligen Jahren. Riegel-System, vom Ausputzer zum Libero, Manndeckung, später Zonendeckung, 4-4-2-System, Pressing, VAR. Welches war bisher die grösste Revolution beim Spiel mit dem runden Ball?
Der wichtigste Entwicklungsschritt betrifft den Einfluss der Trainer auf den Fussball. Früher waren es die erfahrenen Spielerpersönlichkeiten, die dem Spiel den Stempel aufdrückten. Die Rolle der Trainer beschränkte sich hauptsächlich auf die Aufstellung der Mannschaft. Heute sind es die Cheftrainer, die den ganzen Trainingsprozess bestimmen, die Transfers initiieren, das Spielkonzept und Spielsystem vorgeben und aktiv das Spiel von aussen coachen.

Welche Trainer sind die wichtigsten Impulsgeber?
Johan Cruyff mit seinem Positionsspiel war zu seinen Lebzeiten einer, Arrigo Sacchi mit seiner Weiterentwicklung des Pressings. Ottmar Hitzfeld mit seiner überragenden Sozialkompetenz, auch eigentliche Egozentriker in eine Mannschaft einbinden zu können. Pep Guardiola mit seiner Vervollkommnung des Ballbesitzfussballs. Ralf Rangnick mit seinem überschallähnlichen Tempofussball und Jürgen Klopp mit seiner übermenschlichen Überzeugungskraft.

Schweizer Trainer stehen nicht auf dieser Bestenliste?
Christian Gross ist mit seiner konsequenten Führungskompetenz der erfolgreichste Cheftrainer aller Zeiten in der Schweiz – und er wird im nächsten Jahrzehnt von keinem anderen Schweizer Trainer von seinem Thron verdrängt.

Sie haben Gross, Lucien Favre und Christian Constantin Ende der Siebzigerjahre als Trainer von Xamax in Ihrer Mannschaft gehabt. Wie beurteilen Sie die Leistungen von Trainer Favre?
Favre befindet sich im Fahrwasser von Guardiola. Lucien verfügt über überragende Fähigkeiten auf taktischem Gebiet. Obwohl er einen sehr behutsamen Umgang mit seinen Spielern pflegt, liegt bei ihm die Präferenz doch klar auf der Taktik – und da liegt er vermutlich falsch. Heute sind alle Bundesliga-Trainer taktisch sehr gut ausgebildet. Daher gewinnt man Spiele nur noch selten durch taktische Kunstgriffe. Die Mannschaften mit extremem Zusammenhalt und hohen psychischen Reserven kämpfen um die Titel.

Sie waren als Sportchef von GC der erste, der mit dem DFC Schwerzenbach eine Frauen­abteilung bei GC integriert hat.
Leider haben meine Nachfolger das Potenzial des Frauenfussballs völlig unterschätzt. Es gibt bereits Spiele, bei denen der Frauenanteil an den Zuschauern ähnlich hoch ist wie der­jenige der Männer. Den WM-Viertelfinal Frankreich – USA haben 11 Millionen Franzosen am TV verfolgt!

Aber der Frauenfussball kann nicht mit demjenigen der Männer verglichen werden, oder?
Was die physische Komponente betrifft, gibt es ganz natur­gegebene Unterschiede. Eine erwachsene Frau verfügt über zwei Drittel der Maximalkraft eines Mannes. Im Schnellkraftbereich verfügen die Frauen über 87 Prozent der Leistungsfähigkeit von Männern. Das muss sich natürlich bei den Schnelligkeits-, Schnellkraft- und Ausdauerwerten widerspiegeln. Die durchschnittliche Laufstrecke einer Feldspielerin liegt bei 10,5 Kilometer pro Spiel – bei den Männern etwa 11. Die Top-Speed-Werte bei den Frauen sind bei 30 Stundenkilometern angesiedelt – bei den Männern bei 35,3.

Wie sieht es bei der Spielintelligenz aus?
Diese lässt sich nicht messen – aber in diesem Bereich haben die Frauen riesig Fortschritte erzielt und können die Männer bald einholen. Das ist nur eine Frage der Zeit.
Wie beurteilen Sie die Entwicklungsmöglichkeiten des Frauenfussballs in der Schweiz?
Ein erster wichtiger Schritt wurde vollzogen. Tatjana Haenni ist die beste Kennerin des Frauenfussballs und wurde vor wenigen Wochen in die Geschäftsleitung des SFV gewählt. Eine epochale Entscheidung! Nun ist sie gefordert, mit kreativen Lösungsvorschlägen Mehrheiten zu schaffen.

Können Sie ein Beispiel auf­zeigen?
Wenn in Zukunft GC gegen YB am Samstag um 17.30 Uhr im Letzigrund spielt, so sollen die Frauen von GC und YB um 19.30 Uhr das Nachspiel austragen. Sie werden erstaunt sein, wie viele Zuschauer im Stadion bleiben und den Frauenmatch mit Interesse verfolgen werden!

Dafür müssten die Grasshoppers aber zuerst wieder aufsteigen. Sehen Sie weitere Entwicklungsmöglichkeiten für Frauen im Fussball?
Der erste Klub in der Schweiz, der seinen Trainerstab mit einer top ausgebildeten Frau als Trainerassistentin ergänzt, wird einen nicht unwesentlichen Wettbewerbsvorteil daraus ziehen!

Welchen?
Durch Frauen bekommt ein Gremium automatisch eine erweiterte Sozialkompetenz. Sie haben die Tendenz, auch einmal eine unkonventionelle Meinung in eine Diskussion reinzubringen.

Gibt es bereits solche Powerfrauen, die das Vertrauen der eher konservativen Fussballer gewinnen könnten?
Man wird sich in Kürze um sie reissen.

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