Der kleine Myron springt von seinem Sitz auf. Sein Dynamo Kiew hat gerade ein Tor gegen den FC Basel erzielt. Alle Lichter des Stadions leuchten in den Augen des ukrainischen Jungen, als er Oleksandr Karavaev applaudiert. Kiews Nummer 20 feiert das Tor, indem sie auf ihr Trikot zeigt: «Stoppt den Krieg», steht da auf Englisch drauf geschrieben.
Der St. Jakob-Park ist mit gelben und blauen Fahnen geschmückt. Daria umarmt ihren Sohn und drückt ihn fest an sich, ein bisschen zu fest. Dem Blick der jungen Frau zu begegnen, ist ebenso schön wie herzzerreissend. Freude und Stolz kämpfen dort mit dieser unglaublichen Traurigkeit. An diesem Mittwochabend gewinnt der Stolz wieder etwas die Oberhand – zumindest für 90 Minuten.
Männer sind in der Heimat geblieben
«Wir können den Krieg ein bisschen vergessen», sagt Daria auf Englisch. «Die Kämpfe sind in meinem Kopf und auf dem Bildschirm meines Smartphones immer noch da. Wenn ich die Spieler von Kiew auf dem Spielfeld sehe, denke ich viel an meinen Mann und meinen Vater, die in der Ukraine geblieben sind, um unser Land zu verteidigen. Sie sind Dynamo-Fans und haben unseren Sohn zum Fussball mitgenommen.»
Myron, der blonde Junge, der jetzt weit weg von Kiew in Binningen, einem Basler Vorort, mit seiner Mutter lebt. Er geht dort zur Schule. «Alle sind sehr nett zu mir», sagt er mit dünner Stimme. Daria übersetzt ins Englische und fügt hinzu: «Es ist ein bisschen kompliziert mit dem Deutsch, aber hier hört man wenigstens keine Bomben mehr. Ausserdem hat die Schule gerade erfolgreich eine Integrationsklasse auf Ukrainisch organisiert.»
Ein Klub als Friedensbotschafter
Geschichten wie die von Daria und Myron begegnet man auf den Tribünen des des Basler Stadions an diesem Abend zuhauf. Mehr als 15'000 Personen verfolgen das vom FCB organisierte Freundschaftsspiel. Eine Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der Geld für die Glückskette in der Ukraine gesammelt wird.
Dasha und Sergei sind aus Biel angereist. «Als wir gesehen haben, dass Kiew in der Schweiz spielt, sind wir vor Freude in die Luft gesprungen», erklären die beiden aus Donezk geflüchteten Jugendlichen. Normalerweise unterstützen sie den rivalisierenden Verein Schachtar. «Aber nicht heute Abend», lächeln sie hinter ihrer ukrainischen Flagge mit der Friedenstaube.
Das Mädchen hat sich in einer Gymnasialklasse eingelebt, während ihr Cousin aus der Schweiz an einem Fernkurs für Biophysik teilnimmt. Das ist möglich, weil die Universität in Charkiw, der zweitgrössten Stadt in der Ukraine, den Online-Unterricht trotz der Bombardierungen fortführt.
Freiwillige FCB-Helfer
Für den Anlass in Basel wurde ein weisses T-Shirt entworfen. Vanessa trägt es stolz mit ihren beiden Kolleginnen. Das Trio arbeitet für den FCB. «Wir haben alle ehrenamtlich mitgearbeitet, um die Veranstaltung zu unterstützen. Zum Beispiel indem wir Eis verkauft oder beim Ticketverkauf geholfen haben. Es ist schön, die vielen Fahnen im Stadion zu sehen.»
Natalia kennt den St. Jakob-Park gut. Die Mutter lebt seit 17 Jahren in Basel. Ihr Mann und ihr Sohn tragen das Rot und Blau des lokalen Vereins. Zu ihrem Anzug trägt die Ukrainerin einen traditionellen Blumenkranz. Blau und Gelb natürlich.
«Ein Moment der Liebe»
«Meine Mutter Alla kam in die Schweiz, um ihren Geburtstag fünf Tage vor Beginn der russischen Invasion zu feiern», erzählt Natalia. Sie ist nie wieder in die Heimat zurückgekehrt. «Seit Beginn des Krieges tun wir alles, um den ukrainischen Familien, die hierher kommen, zu helfen – mit Mahlzeiten, Übersetzungen oder Behördengängen. Aber wir kommen an den Rand unserer Kräfte und Ressourcen.»
Nach dem Schlusspfiff kommt Mircea Lucescu aus der Umkleidekabine. Der 76-jährige rumänische Trainer von Dynamo Kiew hat im Fussball alles erlebt. «Es ist der einzige Sport, der so viele Menschen auf der ganzen Welt auf so einfache und direkte Weise berührt. Was wir mit diesem Freundschaftsspiel erlebt haben, war ein aussergewöhnlicher Moment der Solidarität und der Liebe.» Der legendäre Trainer kämpft dagegen, dass der Krieg in der Ukraine in Vergessenheit gerät. «Man darf sich nie daran gewöhnen, man muss sich weigern, dass diese Gräueltaten, die man in den Nachrichten sieht, zur blossen Routine werden.»
Die ukrainische Hymne zum Schluss
Als sich das Stadion leert, stehen noch ein paar Autogrammjäger am Spielfeldrand – und da ist diese Gruppe von Frauen, die ein letztes Mal die ukrainische Nationalhymne anstimmen, als wollten sie diesen zeitlosen Moment verlängern. «Für unsere Freiheit werden wir unsere Seelen und unsere Körper geben.» Ihre Stimmen steigen durch die Basler Nacht hinauf bis zu denjenigen, die nicht das Glück hatten, an diesem Mittwochabend, diesem Spiel für den Frieden, dabei zu sein.