Herr Brechbühl, diesen Sonntag findet das Zürcher Derby zwischen GC und dem FCZ statt. Würden Sie einer Familie mit Kleinkindern vom Besuch des Spiels abraten?
Alain Brechbühl: Beim Zürcher Derby ist die Situation zwar erfahrungsgemäss angespannt, in der Regel ist ein Fussballspiel in der Schweiz aber eine sichere Sache. Daher spricht nichts gegen einen Besuch, auch nicht mit Kindern.
Am letzten Sonntag gab es in Zürich nach dem Klassiker zwischen dem FCZ und dem FCB aber einmal mehr massive Ausschreitungen.
Die Daten zeigen eindeutig: Kommt es zu Gewalt-Ereignissen, geschehen die zu einem Grossteil rund um die Reisewege und nicht in den Stadien. So war es auch am vergangenen Sonntag.
Ebenfalls am letzten Sonntag mussten die Fan-Kurven in Bern und Lausanne wegen behördlichen Massnahmen leer bleiben. Was ist momentan los?
Die Situation ist zurzeit anspruchsvoll, und die Schliessungen der Kurven sind Ausdruck einer gewissen Ohnmacht, denn man weiss nicht, welches die geeigneten Hebel sind, um das Problem der Fan-Gewalt zu lösen. Das Spezielle daran ist, dass es in der letzten Saison so wenige Fälle mit schweren gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Super League gab, wie noch nie seit dem Start der Erhebung dieser Zahlen 2018. Doch die Zwischenfälle, die es leider immer gibt, werden medial stark thematisiert, und damit kommt auch die Politik unter Druck zum Handeln.
Der 36-jährige Doktor ist Projektverantwortlicher der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen der Universität Bern. 2016 erschien seine Dissertation «Eskalation versus Nicht-Eskalation von Fangewalt im Fussball». Als Fan-Forscher ist er regelmässig an Fussballspielen, redet mit den Vertretern aller Anspruchsgruppen, beobachtet und erhebt Daten. «Privat habe ich aber keinen Bezug zum Fussball», sagt der ehemalige NLB-Spieler von Handball Grauholz.
Der 36-jährige Doktor ist Projektverantwortlicher der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen der Universität Bern. 2016 erschien seine Dissertation «Eskalation versus Nicht-Eskalation von Fangewalt im Fussball». Als Fan-Forscher ist er regelmässig an Fussballspielen, redet mit den Vertretern aller Anspruchsgruppen, beobachtet und erhebt Daten. «Privat habe ich aber keinen Bezug zum Fussball», sagt der ehemalige NLB-Spieler von Handball Grauholz.
Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) hat im Sommer das sogenannte Kaskadenmodell präsentiert, das zurzeit noch in der Vernehmlassung steckt und möglicherweise auf die nächste Saison hin eingeführt werden soll. Darin sind auch Kollektivstrafen wie eben das Schliessen einzelner Kurven vorgesehen. Was halten Sie von solchen Kollektivstrafen?
Der Begriff Kollektivstrafen ist eigentlich nicht korrekt, denn für eine solche gibt es keine gesetzliche Grundlage. Somit müsste eher von Kollektivmassnahmen gesprochen werden. Problematisch bei solchen Kollektivmassnahmen ist, dass diese den Effekt der Solidarisierung unter den Fans befeuern und bestärken.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Wenn eine Kurve mit mehreren Tausend Menschen gesperrt wird, dann wird diese Strafe von einem Grossteil der Fans als illegitim betrachtet. Sie sagen sich: Warum soll ich für etwas geradestehen, das ich nicht verursacht habe? Dies gibt den Betroffenen eine gemeinsame Identität, und sie wollen gemeinsam gegen die ungerechtfertigte Sperrung ihrer Kurve vorgehen. Kollektivmassnahmen sind deshalb im schlimmsten Fall kontraproduktiv.
Man kann aber auch sagen: Wenn keine Gewalt ausgeübt wird, dann gibt es auch keine Bestrafungen.
Das klingt logisch, hat mit der Realität aber nichts zu tun. Es ist naiv zu glauben, dass alles immer gewaltfrei abläuft, zumal es in den Kurven sehr viele junge Männer hat. Die Gewalt ist nicht nur ein Problem des Fussballs, sondern auch eines der Gesellschaft.
Und wie lässt sich dieses Problem nun lösen?
Die Antwort darauf ist hochkomplex. Damit wir diese Effekte der Solidarisierung vermeiden können, müssen wir die individuelle Strafverfolgung stärken und wegkommen von Kollektivmassnahmen. Die Forschung zeigt: Mit Rayonverboten, Meldeauflagen und gezielter Ermittlungsarbeit kann viel rausgeholt und können einige Täter ermittelt werden. Leider sind diese Aspekte in den letzten Monaten in den Hintergrund geraten. Wir sind auch für Repression, aber wenn immer möglich individuell und nicht kollektiv.
Eine mögliche Lösung wäre die ID-Pflicht.
Für die Täterverfolgung bei Fan-Gewalt ausserhalb des Stadions bringt es wenig, wenn wir wissen, wer im Stadion war. Zudem fehlt die gesetzliche Grundlage zur Speicherung der Daten. Es heisst zwar immer wieder, dass eine ID-Pflicht eine abschreckende Wirkung hätte, es gibt aber unseres Wissens keine Daten, die das belegen.
Sie zeigen in diesem Gespräch Verständnis für die Anliegen der Fans. Kommen bei Ihnen diese zu gut weg?
Nein, auch wir fordern Repression, aber wir halten wenig davon, jeden Fan als potenziellen Gewalttäter zu sehen. Denn noch einmal: Die überwiegende Mehrheit, die zum Beispiel von einer Kurvensperre betroffen ist, hat nicht im Geringsten etwas mit dem Ereignis zu tun, das zu dieser Sperrung geführt hat.
Auch unser Gespräch zeigt: Politiker, Klubs, Experten, Medien – alle wirken zum Teil ratlos. Wo stehen wir in fünf Jahren?
Diese Frage seriös zu beantworten, ist eigentlich unmöglich. Auch wenn es viele nicht mehr hören wollen: Wir brauchen einen konstruktiven Dialog unter allen Anspruchsgruppen. Es gibt auch viele Fans, die genau daran interessiert sind. Und wir alle müssen mal kurz durchschnaufen und dann aufeinander zugehen, denn die Fronten sind zurzeit leider wirklich verhärtet.