Exklusiv-Interview mit Weltmeister Manuel Neuer
So erlebte ich den Terror von Paris

Er ist der beste Torwart der Welt. Und ein Mensch, der über den Tellerrand hinaus denkt. Weltmeister Manuel Neuer (29) spricht im exklusiven SonntagsBlick-Interview über die Terror-Nacht von Paris, die er hautnah miterlebte.
Publiziert: 31.01.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 12:15 Uhr
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Manuel Neuer.
Foto: Toto Marti
Andreas Böni aus Unterföhring

Vor zweieinhalb Monaten schaut die Welt schockiert nach Paris. Sieben Attentäter der Terror-Organisation IS sorgen an jenem Abend des 13. November für ein Blutbad. Allein im Konzertsaal Bataclan sterben 89 Menschen. Insgesamt 130 Menschen kommen in jener Nacht um, 352 weitere werden verletzt.

Es hätte aber noch viel schlimmer kommen können. Beim Länderspiel von Frankreich gegen Deutschland sprengen sich drei Selbstmord-Attentäter vor dem Stadion in die Luft. Sie hatten versucht, ins Stadion zu kommen, waren zum Glück abgewiesen worden. In der Arena sitzen 80 000 Leute, als der erste Knall des Sprengkörpers die Luft zerreisst.

Im Tor der Deutschen steht an jenem Abend Manuel Neuer (29). In bewegenden Worten schildert er die schlimme Nacht von Paris.

SonntagsBlick: Manuel, wie ist es, im Tor zu stehen, wenn plötzlich eine Bombe hochgeht?
Manuel Neuer:
Ich hatte ja keine Vorstellung, was passiert ist. Alle Menschen, die zu Hause vor dem Fernseher sassen, waren irgendwann im Bild und informiert. Wir auf dem Feld hatten keine Ahnung. Als ich den Knall hörte, wusste ich zwar sofort, dass es sich nicht nur um einen China-Böller handelt. Aber ich hatte keine Ahnung, was genau dahintersteckt.

Wie fühlte es sich auf dem Feld an?
Ich stand in dem Moment, war also nicht in Bewegung.  Ich nahm am Boden eine leichte Erschütterung wahr. Aber dass es sich um einen Terroranschlag handelt, damit hätte ich nie gerechnet.

Wann haben Sie es denn erfahren und realisiert?
Relativ spät. Die meisten Spieler sind nach dem Spiel direkt in die Kabine gegangen. Ich war einer von dreien, die noch zu den Fans gegangen sind. Es war schon relativ hektisch, aber wir wollten uns dennoch verabschieden. Auf der Grossbildleinwand stand etwas auf Französisch. Leider verstehe ich die Sprache nicht und konnte es somit auch nicht lesen. Sonst hätte ich vielleicht in dem Moment anders reagiert. Ich erkannte die Dimension erst, als wir dann in der Kabine informiert wurden.

Was denkt man in jenem Moment, wenn man hört, dass sich jemand im Stadion in die Luft sprengen wollte?
Das wussten wir in der Kabine erst noch nicht. Uns wurde nur gesagt, dass wir hier bleiben und uns ruhig verhalten sollen. Wir wussten, dass wir bei unseren Sicherheitsleuten und jenen vom Stadion in guten Händen sind. Und warteten ab.

Im Stadion hört man insgesamt drei Detonationen. In der Halbzeitpause wird Frankreichs Staats­präsident François Hollande vom Sicherheitsdienst evakuiert. Kaum einer merkt es. Die ganze Dimen­sion wird für die Menschen erst in der zweiten Halbzeit richtig greifbar. Spieler und Betreuer der französischen und der deutschen Nationalmannschaft werden nach dem Spiel in eine 70 Quad­ratmeter grosse Garderobe gebracht. Und müssen dort aus Sicherheitsgründen die ganze Nacht verbringen.

Wie muss man sich die Atmosphäre in der Garderobe vorstellen?
Die Experten haben zu uns gesprochen und gesagt, dass wir erst mal abwarten müssen. Es war alles sehr geordnet, geregelt.

Hatten Sie nicht Dutzende Nachrichten auf dem Handy?
Die Leute zu Hause haben sich natürlich Sorgen gemacht, klar. Sie wussten ja nicht, wie man reagieren soll, es war ein Schock für alle. Viele haben sich gemeldet, gerade aus der Familie. Wir waren einigermassen gelassen, weil wir ja keine Wahl hatten. Und: Während die Menschen in Deutschland die grauenvollen Bilder gesehen hatten, waren wir noch nicht auf dem gleichen Stand. Wir hatten keine konkreten Infos und Fakten. Der Fernseher in der Kabine lief nicht.

Haben Sie nichts auf dem Handy nachgelesen?
Doch, schon. Aber bei einem Spiel nimmst du ja nur mit, was du zum Spiel und zum Duschen brauchst. Alle restlichen Sachen hatten wir im Hotel, auch die Aufladegeräte für die Handys. Darum war es wegen unserer Angehörigen für uns wichtig, dass die Akkus nicht zu Ende gingen. Wir haben schliesslich die ganze Nacht in der Kabine verbracht, ohne gross zu schlafen.

Die unangenehme Situation dauert bis morgens um sieben Uhr. Dann wird die deutsche Mannschaft in einer geheimen Aktion in Bussen zum Flughafen Charles de Gaulle gefahren, fliegen dort weit weg von Terminals unter höchster Geheimstufe los. Die Sicherheitsexperten suchen derweil das Hotel auf, packen die Koffer für die Spieler.

Wie froh waren Sie, weg aus Frankreich zu sein?
Schon erleichtert. Wir sind am Morgen dann nach Frankfurt geflogen. Und durften nach Hause zu unseren Familien. Auch um ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Haben Sie sich die Bilder danach angeschaut?
Da kommst du ja nicht daran vorbei. Bei jedem Jahresrückblick war auch wieder alles präsent. Wir hatten schon ein wenig Glück.

Reisen Sie im Sommer mit einem mulmigen Gefühl nach Frankreich?
Nein.

Auch keine Angst, dass bei den Spielen etwas passiert?
Überhaupt nicht.

Ein paar Tage später wurde das Testspiel gegen Holland wegen Terrorgefahr abgesagt. War es das richtige Zeichen?
Man weiss ja nicht, was wirklich hinter den Warnungen steckt. Jeder ist Profi in seinem Job. Ich kann keine guten Fragen stellen, ich bin kein Journalist. Ich kann Bälle halten. Und ich bin kein Sicherheitsexperte. Man sollte den Profis in ihrem Job vertrauen.

Manuel Neuer sitzt an diesem Sonntag in einer Allwetter-Sportanlage in Unterföhring bei München. 837 Kilometer weg von Paris. Der deutsche Nationaltorwart hatte einen Termin für die «Allianz», eines der weltweit grössten Versicherungsunternehmen. Aus ganz Deutschland hatte die Firma Kinder eingeladen, die dann mit Neuer in der Indoor-Halle auf Kunstrasen trainieren durften. Sogar ein Elfmeterschiessen gabs zum Schluss – mehrere Kinder verwandelten. «Es hat riesigen Spass gemacht», sagt Neuer. «Kinder zu trainieren, das könnte ich mir auch nach der Karriere vorstellen.»

Sie sind Weltmeister, Champions-League-Sieger, Weltpokalgewinner, mehrfacher deutscher Meister und Pokalsieger. Wenn Sie im Sommer die EM gewinnen, müssten Sie eigentlich aufhören.
Wer mich kennt, der weiss, dass ich den Sport liebe. Jeden Tag. Natürlich ist es ein Traum von uns, Europameister zu werden. Es wird aber schwierig bei dieser Konkurrenz. Aber selbst im Falle des Titelgewinns: Aufhören werde ich sicherlich nicht.

Ein grosser Stürmer, Karim Benzema, wird eventuell bei der EM fehlen. Er wurde suspendiert, weil er bei einer Sexvideo-Erpressung mit seinem Teamkollegen Valbuena mitgeholfen haben soll.
Ich kann den Fall von aussen nicht beurteilen. Es ist wichtig, dass die Besten bei einer EM mit dabei sind. Aber es ist auch wichtig, was für die Mannschaft gut ist.

Sie spielten zweieinhalb Jahre mit Xherdan Shaqiri bei den Bayern. Wie sehen Sie ihn?
Er ist unberechenbar. Er hat viel Talent am Ball, ist auf mehreren Positionen einsetzbar und ein guter Standardschütze. Ein klasse Spieler.

Warum hat er’s in München nicht gepackt?
Es war sein Wunsch, den Verein zu verlassen. Ich weiss nicht, ob es der richtige Schritt war. Ich fand es sehr schade, dass er gegangen ist. Weil er ein sehr guter Spieler ist.

Für SonntagsBlick posiert Neuer mit einer Kopie des WM-Pokals. Der Fotograf will das Handy des Reporters zur Seite stellen, Neuer interveniert. «Damit wird das Gespräch aufgenommen. Oder kannst du dir alles merken?» Er lacht. Ordnung muss sein. Deutsche Gründlichkeit.

Als Sie von Schalke zu Bayern wechselten, empfingen Sie einige Münchner Fans mit «Koan Neuer»-Plakaten. Hat es Sie stark gemacht mental, diese menschlich sicherlich schwierige Situation zu überstehen?
Es war mir schon vorher klar, dass es keine einfache Zeit wird. Aber ich hatte von den normalen Fans, Mitspielern, vom Verein, vom Management immer die volle Unterstützung. Das hat es mir leichter gemacht.

Sie trugen bei Schalke unter dem Torwart-Trikot immer ein Shirt der Fan-Gruppierung «Buerschenschaft». Gibt es dieses noch?
(lacht) Ja. Aber ich weiss nicht, ob es hier in München ist oder in Gelsenkirchen irgendwo.

War es für Sie überraschend, dass Pep Guardiola im Sommer geht?
Es war klar, dass die Entscheidung im Winter kommt. Abgezeichnet hatte es sich für mich nicht. Man spürt jetzt auch nicht, dass er den Verein verlässt. Er hat sich überhaupt nicht geändert, macht seine Arbeit wie vorher auch.

Ziel sind jetzt alle Titel, oder?
Das wäre schön, wir arbeiten jedes Jahr darauf hin. Das hat aber nichts mit dem Ende von Pep Guardiola zu tun.

Sie haben in Ihrer Karriere bislang nur für Schalke und Bayern München gespielt. Ist es ein Thema für Sie, mal im Ausland zu spielen?
Ich bin eher eine treue Seele. Ich habe 20 Jahre lang für Schalke gespielt. Nun bin ich fast fünf Jahre bei Bayern und habe einen Vertrag bis 2019. Ich fühle mich sehr wohl, und ich weiss, welche Rolle ich in dem Verein eingenommen habe. Man kann nichts ausschliessen, natürlich. Man weiss, wie schnelllebig Fussball ist. Trotzdem spiele ich aktuell nicht mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen. Keine Ahnung, wie ich mit 33, 34 Jahren denke. Vielleicht sage ich mir dann, dass ich diese Erfahrung noch sammeln will. Weil die Karriere eines Fussballers nun mal ja auch beschränkt ist.

Als Torwart kann man ja bis 40 spielen, oder?
Bis 45 (lacht).

Der englische Ex-Nationaltorwart Peter Shilton hörte erst mit 47 Jahren auf.
Wir werden sehen. Das ist noch weit weg.

Vier Mal in Folge wurde Manuel Neuer als Welttorhüter des Jahres ausgezeichnet. Letztes Jahr war er neben Cristiano Ronaldo und Lionel Messi zusätzlich für den Ballon d’Or nominiert. Gewonnen hat er diesen Preis trotz Weltmeister-Titel nicht.

Sind Sie enttäuscht, dass Sie dieses Jahr nicht für den Ballon d’Or nominiert waren?
Nein. Ich bin ausgezeichnet worden für die Top 11 und zum besten Torwart der Welt. Das macht mich sehr stolz und dankbar gegenüber den Förderern meiner Karriere, meinen Trainern und Mitspielern bei Bayern und in der Nationalmannschaft.

Gut und recht. Aber Philipp Lahm bezeichnete die Veranstaltung wohl nicht zu Unrecht als «Weltstürmer-Wahl».
Auf jeden Fall ist es als Defensivspieler sehr schwierig, den Ballon d’Or zu gewinnen. Aber das Augenmerk liegt nun mal auf den Offensivspielern. Das Toreschiessen ist für den Fan und Zuschauer das Entscheidende und Schönste am Fussball. Das weiss jeder. Darum kommts meistens zu den Erfolgen von Cristiano Ronaldo und Lionel Messi.

Also können Sie es nachvollziehen.
Natürlich. Man weiss es schon im Voraus, dass einer der beiden gewählt wird. Auch wenn wir mit Bayern in einem Jahr alles gewannen und mit Deutschland in einem anderen Jahr Weltmeister geworden sind. Für mich war es eine grosse Ehre, für das Jahr 2014 unter den letzten drei gewesen zu sein.

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