Ex-Natistar Giuseppe Mazzarelli (45) bricht mit dem Tabu
«Depressionen zerstörten meine Karriere!»

Ruhm. Geld. Glamour. Millionen träumen vom Leben eines Fussballprofis. Giuseppe Mazzarelli hat dieses Leben gelebt und sagt: «Mein Bubentraum wurde zum Alptraum.» Offen und ehrlich redet der ehemalige Fussballstar über seine Krankheit.
Publiziert: 14.04.2018 um 23:58 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 16:40 Uhr
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Heute redet Giuseppe Mazzarelli offen über seine schwierige Zeit.
Foto: TOTO MARTI
Michael Wegmann (Text), Toto Marti (Foto)

Giuseppe Mazzarelli aus Dübendorf ZH hat es geschafft. Er lebt den Traum von Millionen von Buben. Er wird Meister mit GC, mit St. Gallen, er spielt für die Schweizer Nationalmannschaft. Ab 2001 ist er Fussballprofi im Land seiner Eltern, er spielt bei Bari in Italien.

Doch als ihn der Trainer am 30. März 2003 in der Partie gegen Sampdoria Genua zum Einlaufen schickt, hofft der 30-Jährige, nicht spielen zu müssen. «Es fühlte sich an, als müsste ich eine Ansprache vor Hunderten von Leuten halten, einfach noch viel schlimmer. Mein Hals schnürte sich zusammen, ich konnte kaum mehr atmen», sagt Mazzarelli.

Dabei müsste er auf einen Einsatz brennen. Bari hat mit Marco Tardelli einen neuen Trainer verpflichtet, der Mazzarelli nach Wochen auf der Tribüne eine neue Chance gibt. Tardelli sei ein wahrer Gentleman gewesen, sagt er. «Aber es war zu spät. Als er kam, war ich schon ausgelaugt!»

Keiner will es wahrhaben – er am allerwenigsten

Der 13-fache Nati-Verteidiger ist krank. Der Fussballstar leidet an schweren Depressionen. Nur will es damals keiner wahrhaben, er selbst am allerwenigsten. «Ich hatte körperliche Symptome, glaubte an eine physische Erkrankung oder Verletzung und liess mich mehrmals von unserem Mannschaftsarzt untersuchen.»

Doch der Doktor, mittlerweile Teamarzt bei Napoli, habe es wohl einfach nicht sehen wollen, sagt Mazzarelli. Er leidet und ist frustriert. «Wer nie depressiv war, kann sich nicht vorstellen, wie schlimm es sich anfühlt. Man fragt sich dauernd die seltsamsten Dinge wie: Habe ich Angst? Kann ich noch atmen? Habe ich Panik?»

Ans Fussballspielen kann er in diesem Zustand nicht mal denken. «Mein Bubentraum wurde zum Albtraum.»

Heute, 15 Jahre später, sitzt er in seinem Büro im Industriegebiet von Kloten ZH. Vor zehn Jahren hat er mit Remo Di Jorio – dem Bruder seines ehemaligen FCZ-Teamkollegen Franco – die Firma «SuisseParking» am Flughafen Zürich gegründet. Einen Valet-Parkservice, den auch die Nationalmannschaft nutzt. «Franco und Remo habe ich wahnsinnig viel zu verdanken», sagt Mazzarelli, «sie waren immer für mich da.»

Der mittlerweile 45-Jährige redet ehrlich, direkt und offen über seine Krankheit. Sogar zum Scherzen ist er aufgelegt. «Hast du das grosse Objektiv dabei?», fragt er den Fotografen. «Wegen der vielen Antidepressiva habe ich zugenommen.»

Noch immer ist er in Behandlung. Einmal pro Monat besucht er seine Psychiaterin. «Die Krankheit schlummert noch immer in mir, aber zurzeit habe ich sie im Griff.»

Er glaubt, dass die italienische Fussballkultur es war, die ihn so weit gebracht habe. «Ich bin am Druck zerbrochen.» Am Druck der Presse und der Tifosi, die einen auf Schritt und Tritt verfolgen.

Dazu kommen die Fahrten im Mannschaftsbus durch die heruntergekommenen Stadtviertel, in welchen in Italien oft die Stadien stehen. «Die gegnerischen Tifosi machten durch die Fensterscheiben Zeichen, wie sie uns die Kehle durchschneiden würden.»

In der Pause bedrohten skrupellose Typen

Einmal seien in der Pause eigene Fans in die Kabine marschiert. Mazzarelli: «Sie drohten damit, uns fertigzumachen, sollten wir nicht den Finger rausnehmen. Das waren skrupellose Typen mit Narben im Gesicht und einer Knarre im Sack.»

Er und seine Teamkollegen sitzen fassungslos da. Mazzarelli vermutet mittlerweile, dass diese Anhänger damals im Auftrag des eigenen Präsidenten gehandelt hätten, um grossen Druck auf die Spieler auszuüben. «Er wollte, dass wir vor Angst in die Hosen scheissen und im nächsten Spiel um unser Leben rennen. Das ging mir brutal nah. Ich hatte richtig Angst», sagt Mazzarelli.

Im Gegensatz dazu sei die Schweiz ein Paradies. Dübendorf, seine Heimat, sowieso. «Wir sind aufgewachsen wie in einer Seifenblase, in Watte gehüllt. Ich war damals einfach zu empfindlich für den Profifussball in Italien!»

Nach seinem elfminütigen Joker-Einsatz in Genua ist Schluss. Zu den beruflichen Problemen kommen grosse private Schwierigkeiten. Mazzarelli und seine damalige Frau Leyla, die Schwester des Ex-Nati-Stars Kubilay Türkyilmaz, trennen sich kurz nach der Geburt ihrer Tochter. «Ich fühlte mich nicht verstanden. Alles zusammen war zu viel für mich. Es hat mich verchlöpft!»

Erst wirft Mazzarelli die farbigen Pillen weg

Frau und Tochter ziehen aus, er geht zu einem Doktor in Bellinzona. Dieser verschreibt ihm Antidepressiva. Doch Mazzarelli wirft die farbigen Pillen weg. «Ich dachte: Ich bin doch nicht depressiv und brauche keine Psychopharmaka.»

Er zieht zurück zu seinen Eltern nach Dübendorf. Besser wirds jedoch nicht. «Meine Mami hat ihr Leben lang gekrampft. Sie konnte nicht verstehen, dass ich mich nicht zusammenreissen konnte, etwas zu tun.»

Sein Leiden wird grösser. Erst trainiert er auf Einladung von Trainer Lucien Favre beim FCZ, unterschreibt aber Monate später beim Erstligisten Baden. Spielen tut er kaum mehr. Im Sommer 2005 hört der Mann mit den Laser-Pässen, der noch fünf Jahre zuvor eine tragende Säule in St. Gallens Meistermannschaft war, in der Fussballprovinz auf.

Seine Krankheit ist auf dem Höhepunkt. Mazzarelli traut sich kaum mehr aus dem Haus. «Ich wäre am liebsten nie mehr aufgestanden. Ich konnte nicht mehr in ein Einkaufszentrum, nicht mehr unter die Leute. Ich hatte das Gefühl, ich würde ersticken. Zudem konnte ich kaum mehr mit meinem Hund spazieren gehen.»

Heute kann er wieder lachen und arbeiten

Bei einem der wenigen Male, in welchem er sein Haus verlässt, lernt er Marisa kennen. «Wir verstanden uns auf Anhieb super und verabredeten uns wieder.» Aus Freundschaft wird Liebe. «Plötzlich hat es klick gemacht!», sagt er. Marisa ist sein grosses Glück.

«Sie hat verständnisvoll reagiert und unglaublich Geduld mit mir gehabt. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.» 13 Jahre sind die beiden nun zusammen. Mittlerweile verheiratet und seit 22 Monaten Eltern von Kimberly. Mazzarelli: «Sie sind das Beste, was mir passieren konnte! Kimberly und Marisa geben mir extrem Energie.»

Giuseppe Mazzarelli mit seiner Marisa und Tochter Kimberly.
Foto: ZVG

Heute spielt und lacht er mit seiner kleinen Familie. Einmal im Monat geht er zu seiner Psychiaterin. «Mit ihr kann ich über alles reden, es passt einfach. Diese regelmässigen Sitzungen tun mir wahnsinnig gut.»

Jeden Morgen steht er auf und geht arbeiten. Er spielt sogar wieder Fussball. Zum Plausch mit den Di
Jorios und anderen Kumpels. Mazzarelli lebt sein Leben. Es ist für ihn eine grössere Leistung als jeder Meistertitel, jedes Länderspiel.


Persönlich-Box
Giuseppe Mazzarelli kommt am 14. August 1972 in Dübendorf ZH als Sohn italienischer Einwanderer auf die Welt. 1984 wechselt das Talent zum FCZ, wo er 1990 als 18-Jähriger in die 1. Mannschaft kommt. Im Sommer 1996 spielt er ein halbes Jahr bei ManCity. Zurück in der Schweiz wechselt er zu GC, wo er 1999 Meister wird. Den Titel feiert er auch ein Jahr darauf mit dem FC St. Gallen. Sein Bubentraum geht im 2001 in Erfüllung. Giusi aus Dübendorf wechselt in die Serie A zu Bari. Er schlägt ein, bekommt ein Angebot von Inter Mailand. Doch Bari lässt ihn nicht ziehen. Am 30. Mai 2003 «verchlöpft» es ihn.

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