Über diese eine Szene sprechen sie in Aadorf immer wieder gern. Sie spielt sich vor zwei Jahren ab – und wird mit solcher Inbrunst erzählt, als handle es sich dabei um das Legendärste, das die Klubgeschichte der Thurgauer zu bieten hat.
Die zweite Mannschaft des SC Aadorf, damals noch in der 4. Liga, tritt beim FC Tobel-Affeltrangen an. Zwei Minuten vor Schluss stehts 2:2, als Matthias Müller eingewechselt wird. Kaum steht der Stürmer auf dem Platz, rutscht er im Strafraum in eine flache Hereingabe – und erzielt so das 3:2. Auch aufgrund dieses Tores steigt der Gegner wenig später ab.
«Du hast Tobel abgeschossen!», johlt Rainer Ledergerber seinem Spieler zu. Müller muss lachen, als der ulkige, sympathische Assistenztrainer des 5.-Liga-Teams die Geschichte zum Besten gibt. «Und der Höhepunkt war ja, dass wir ‹Mätte› daraufhin die Haare abrasieren durften», schiebt Ledergerber nach, bevor er sich zwecks Trainingsvorbereitung wieder aus dem Staub macht.
«Das war eine lustige Wette, die sich so halt ergeben hat», erklärt Müller. Denn: Tore von ihm sind ebenso selten wie längere Einsätze. Grund dafür ist eine Sehbehinderung, genannt Achromatopsie, die der heute 25-Jährige seit Geburt hat – und die eine totale Farbblindheit sowie eine drastische Reduktion der Sehkraft beinhaltet. In seinem Fall auf lediglich zehn Prozent. Er kann nur Schwarz und Weiss sowie Grautöne sehen. Oft muss er nahe an etwas herangehen, um es zu erkennen.
Wetter entscheidet über Einsatz
Müller hat gelernt, damit zu leben. Sein täglicher Begleiter ist eine rot-orange gefärbte Sonnenbrille. Sie schützt seine enorm lichtempfindlichen Augen. Im Alltag und auch auf dem Fussballplatz.
Dass er da nicht allzu oft eingesetzt wird, ist für ihn «okay» – denn auch er weiss, seine persönlichen Rahmenbedingungen machen es ihm nicht einfach: «Meine Reaktion ist um zwei bis drei Sekunden langsamer als jene der Normalsehenden.» Hinzu kommt, dass seine Einsätze oft wetterbedingt sind. Blendet ihn die tief stehende Sonne, sieht er «praktisch nichts mehr». Doch Müller gehts ohnehin in erster Linie ums Ausüben seiner Leidenschaft und «um den Teamgeist», wie er sagt: «Wir sind wie eine Familie.»
Daran, dass er hin und wieder wegen seiner Brille komische Blicke kassiert oder als Kind vereinzelt Hänseleien ausgesetzt war, hat er sich gewöhnt. Er sei schon immer bemüht gewesen, das Beste aus der Situation zu machen, erklärt er – auch in schwierigen Momenten: «Es hat sicherlich Mut gebraucht, um mit dem Fussball zu beginnen. Einerseits, weil es ein sehr ehrgeiziger Sport ist. Andererseits, weil man vielleicht nicht von allen akzeptiert wird, da man nicht auf demselben Niveau spielen kann wie ein Normalsehender.»
«Es geht nicht ohne Humor»
Die Hemmschwelle gesenkt hätten hierbei seine Kollegen, die ihn schon im jungen Alter zum Eintritt in den Verein überredeten. Seinen Freunden verzeiht er auch mal einen Spruch, der auf seine Sehschwäche abzielt. Selbstironie gehört für ihn einfach dazu: «Es geht nicht ohne Humor», sagt er schmunzelnd, «dafür zünde ich sie wegen anderen Dingen an.»
Egal, ob im Beruf als Maschinenbauingenieur, in der Bürgermusik Ettenhausen, der er gar als Präsident vorsteht, oder im Fussball: Müller ist froh, hat er ein Umfeld, das mittlerweile ganz auf seine Sehbehinderung sensibilisiert ist. SCA-Trainer Gaetano Russo und Assistent Ledergerber nehmen in vielerlei Hinsicht Rücksicht auf ihn – und sei es nur in der Farbe der Markierungshütchen auf dem Rasen. Seine Mitspieler passen ihm flach zu, weil er hohe Bälle erst sehr spät erkennt.
Ledergerber betont, Müller bringe trotz Handicap sehr wohl seine Leistungen: «Es ist unglaublich, wie laufstark er ist. Würde er 20 oder 30 Prozent mehr sehen, könnte er uns sicherlich noch viel mehr helfen.»
Es ist Müllers offene, direkte Art, die den Menschen den Zugang zu ihm und seiner Geschichte erleichtert. Ledergerber erzählt, einst habe «Mätte» 20 seiner speziellen Brillen im Training verteilt, um den Mitspielern einen kleinen Eindruck seiner Sichtweise zu verschaffen.
Und nicht zuletzt ist es auch jene eingelöste Wette nach dem denkwürdigen Spiel gegen Tobel-Affeltrangen, die als Beispiel für seine Aufgeschlossenheit steht. Ob er sich nach dem nächsten Tor wieder die Haare abrasieren lässt? «Das werden wir noch sehen», meint Müller lachend, «je nach Stimmung und Wichtigkeit des Tores vielleicht.»