«Zu langsam» und «dicklich»
Wie Englands Superstar Harry Kane einst ausgemustert wurde

Mit seinen Toren am Fliessband schiesst er sich in die Herzen der Fans. Nach dem Schlusspfiff taucht er ab. Harry Kane mag kein Brimborium um seine Person. Der Kapitän der Three Lions ist sowohl für die Klatschpresse als auch für Fussball-England nicht greifbar.
Publiziert: 16.06.2024 um 13:11 Uhr
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Aktualisiert: 16.06.2024 um 17:06 Uhr
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Harry Kane Superstar? Nur auf dem Platz. Daneben tut er sich schwer, die Liebe der Fans zu gewinnen.
Foto: Getty Images
Raphael Honigstein
Schweizer Illustrierte

Harry Kane (30) ist nicht zu fassen. Genau wie Film-Meisterdieb Thomas Crown schafft es auch der englische Nationalstürmer, seinen Verfolgern immer wieder zu entwischen. Er lässt sich in vermeintlich ungefährliche Bereiche des Platzes fallen, schleicht sich im Strafraum davon oder läuft, wenn es sein muss, den Gegnern mit seinem überraschend schnellen Antritt einfach davon. Mehr als 400 Pflichtspieltore sind ihm so bereits gelungen.

Was auf dem Platz schwer genug ist, wird nach Spielende vollends zum Ding der Unmöglichkeit. Kane, der Mensch hinter dem Superstar, lässt sich nicht greifen. Er ist praktisch unsichtbar, ein Enigma. Obwohl er für einen der grössten Vereine der Welt spielt (FC Bayern München), der Gewinner des «Goldenen Schuhs» bei einer Weltmeisterschaft war (Russland 2018, sechs Treffer) und bei Tottenham Hotspur jahrelang auf der Liste der besten Premier-League-Torschützen auftauchte, weiss man kaum mehr über Harry Kane, als dass er mit seiner Schulliebe Katie Goodland (31) verheiratet ist, vier Kinder mit ihr hat und ein passionierter Golfspieler ist.

Ein wenig «dicklich»

Kane, der Sohn eines irischen Einwanderers, der sich im Ostlondoner Vorort Walthamstow vom Automechaniker zum Immobilienhändler hocharbeitete, will es nicht anders als in dieser Rolle des Phantoms. Alkoholgetränkte Eskapaden (Wayne Rooney) oder Selbstinszenierungen auf dem roten Teppich (David Beckham) sind beim amtierenden Nationalmannschaftskapitän der Three Lions völlig undenkbar, er bleibt dezidiert unauffällig, wenn nicht gar: eine Leerstelle.

Um zu verstehen, warum dem so ist, muss man die Zeit zurück ins Jahr 2002 drehen, in den Sommer, in dem Kane im Alter von neun Jahren von der Jugendakademie des FC Arsenal ausgemustert wird. Er hat eine Saison lang für die Kindermannschaft des grossen Erstligavereins gespielt, gilt laut Akademieleiter Liam Brady bei den Nachwuchstrainern jedoch als «zu langsam» und sogar als ein wenig «dicklich».

«Ablehnung zu erfahren, ist schwierig für jedes Kind», sagt Kane später über diese Enttäuschung. «Mein Vater teilte es mir mit. Ich war nicht alt genug, um das Gefühl, abgelehnt zu werden, richtig zu verstehen. Dad zeigte keine Anzeichen von Enttäuschung. Er legte einfach den Arm auf meine Schultern und sagte: ‹Wir machen weiter und arbeiten noch härter. Dann sehen wir, wo es hinführt.›»

«Die meisten Kinder wären am Boden zerstört gewesen», erzählte Kanes ehemaliger Jugendtrainer Alex Welsh dem «Daily Telegraph», «aber Harry wurde dadurch noch zäher. Er sagte zu seinen Eltern: ‹Na gut, wenn ich nicht gut genug laufen kann, nehme ich mir eben einen Leichtathletiktrainer.›» Er geht in den Epping Forest und läuft die Hügel rauf und runter. Es ist der Moment, in dem er diesen unersättlichen Hunger bekommt, sich ständig zu verbessern. «Er ist damit ein wunderbares Vorbild für junge Leute. Er zeigt ihnen: Ein Rückschlag ist nicht das Ende der Welt», sagt Welsh.

Über den Umweg FC Watford landet Kane letztlich bei Tottenham, dem grossen Rivalen von Arsenal.

Ohne Alkohol, Partys, Tattoos

Noch bevor er ein Teenager ist, beschliesst Kane, sein komplettes Leben dem Fussball zu widmen. Keine Partys. Keine Konzerte. Kein Alkohol. Keine Tattoos. Mädchen? Ja, aber nur eines. Katie, seine grosse Liebe, war früher selbst eine gute Fussballerin. Beide spielten gemeinsam eine Zeit lang in der Akademie von Beckham in Greenwich.

Die völlige Hingabe an den Sport hat Kane mit vielen Topspielern gemein, doch anders als der Argentinier Lionel Messi (Inter Miami), der Portugiese Cristiano Ronaldo (Al-Nassr) oder der Norweger Erling Haaland (Manchester City) braucht er sehr lange, bis er seinen grossen Durchbruch schafft. Als er 17 Jahre alt ist, gibt es bei Tottenham niemanden, der glaubt, dass aus Kane eines Tages ein Spitzenspieler werden würde. Er ist damals zum Drittligisten Leyton Orient ausgeliehen und schiesst wenige Tore. Das Schema wiederholt sich bei den unterklassigen Klubs Millwall, Norwich City und Leicester City. Erst mit 20 Jahren feiert er sein Debüt in der Premier League mit Tottenham.

Kane wurden seine Fähigkeiten nicht in die Wiege gelegt, er hat sie sich hart erarbeitet. Wer wie er jahrelang gegen die Zweifel anderer ankämpft, entwickelt zwar eine dicke Haut, aber nicht unbedingt Charme und Leichtigkeit im Umgang mit dem öffentlichen Interesse. Selbst als er 2016 zum Kapitän der Nationalmannschaft ernannt wird, wirkt er vor den Mikrofonen oft ein wenig unsicher. Als er vor dem Spiel Englands gegen Tunesien bei der WM in Russland über den Spielort Wolgograd, ehemals Stalingrad, befragt wird, antwortet er achselzuckend: «Tja, die Geschichte. Sie ist so, wie sie ist.» Dafür erntet er viel Häme.

Die Klatschpresse kapituliert

Kane hat sich mittlerweile eine gewisse Routine in Interviews und an Pressekonferenzen antrainiert, er performt dort zwar nicht spektakulär, aber verlässlich. Auch in der Kabine ist er kein grosser Redner. Er führt seine Teams durch Professionalität und Leistung an, nicht mit Worten. Weil er auch abseits des Rasens wenig von seiner Persönlichkeit preisgibt, lassen ihn die englischen Klatschblätter in Ruhe. Kane taugt nicht für Schlagzeilen. In Zeiten, in denen viele Kollegen jeden Restaurantbesuch fotografisch ausschlachten und ihr Millionärsleben in den sozialen Medien zelebrieren, gibt Kane nur das Nötigste preis. Es gibt ein Foto von ihm auf Knien am Strand auf den Bahamas, beim Heiratsantrag an Katie, und zwei Bilder vom Tag der Hochzeit («Ich habe meine beste Freundin geheiratet!») sowie ein paar Schnappschüsse von seinen Kindern Ivy (7), Vivienne (5), Louis (3) und Henry (7 Monate), mit verpixelten Gesichtern, aber keinen echten Einblick ins Familienleben.

Der 31-Jährige schafft es mit all dieser demonstrativen Zurückhaltung trotz des grossen sportlichen Renommees, das er inzwischen hat, abseits des Platzes ein relativ konventionelles Leben zu führen.

Ein Leben in Münchner Ruhe

In München, wo die Leute im Umgang mit Prominenten von Natur aus eher distanziert sind, kann er während der ersten sechs Monate im Mandarin-Oriental-Hotel unweit der Luxusmeile Maximilianstrasse allabendlich unbelästigt im Sushi-Restaurant Matsuhisa dinieren. In seinem zweiten Lieblingsladen, dem auf Steaks spezialisierten «Theresa Grill» gegenüber der Universität, spricht ihn ebenfalls kaum jemand an, und beim Golfen im Vorort Strasslach oder im Kino-Museum Lichtspiele – dort laufen englische Originalfilme – hat er sowieso seinen Frieden. Seit die Familie kurz vor Weihnachten in eine Villa im Süden der Stadt umgezogen ist, sieht man ihn fast gar nicht mehr unterwegs.

Für die Fans nicht greifbar

Diese Normalität hat allerdings auch ihren Preis. England präferiert traditionell Fussballhelden mit Ecken und Kanten, Schwächen und Skandalen. Harry Kane dagegen ist mit seinem asketischen Fokus auf den Sport für den Geschmack des Publikums auf der Insel etwas zu glatt. «Farblos» und «kalt» nannte ihn «The Athletic» in einer Geschichte, die von der mangelnden Fanliebe für den Ausnahmeangreifer handelte. «Für alle, die grosse, grelle Emotionen von Spielern erwarten, bleibt der englische Kapitän zu scheu und verborgen,» schrieb das Portal während der WM in Katar.

Die zurückhaltende Art Harry Kanes liefert auch die Erklärung, warum ihn trotz der vielen Tore erstaunlich viele Fussballfans in seinem Heimatland skeptisch betrachten. 2018 macht sich sogar der offizielle Social-Media-Kanal des englischen Fussballverbands (FA) über Kanes Leistung bei der Cup-Halbfinal-Niederlage gegen Manchester United lustig. Gegenspieler Chris Smalling habe den Stürmer «in seiner Tasche gehabt», spottete die FA – um sich tags darauf bei Spieler und Tottenham zu entschuldigen.

Kane wird sich nicht mehr ändern. «Ein professioneller Fussballer zu sein, heisst in erster Linie, seinen Job zu machen», hat er kürzlich über seine Berufseinstellung gesagt. «Man muss alles dafür tun, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren und der beste Spieler zu sein, der man sein kann.» Er ist ein bedingungsloser Selbstoptimierer, ein Vorbild in Sachen Resilienz und Härte gegenüber sich selbst. Seine Harry-Kane-Stiftung hat es sich zum Ziel gemacht, Kindern beizubringen, sich «von negativen Erlebnissen zu erholen, Herausforderungen zu überwinden und das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen».

Harry Kane ist ein grosses Vorbild für ehrgeizige Jugendliche. Was ihm zum Status der Nationalikone fehlt, sind Brüche und eine Maserung. Oder, als Alternative, ein grosser Titel. Falls der Bundesliga-Torschützenkönig 2023/24 (36 Treffer) am 14. Juli in Berlin den EM-Pokal in die Höhe hält, wird mangelndes Charisma nie mehr ein Thema sein.


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