Dass er das noch miterleben darf: Ingólfur Arnarson hat beste Sicht auf die riesige Leinwand, als die Isländer schon in der dritten Minute den Ball im EM-Viertelfinale aufs Tor der Franzosen schiessen.
Arnarson, laut Sagen der erste Siedler Reykjaviks, steht in Metall gegossen auf dem grünen Hügelchen Arnahóll in der Hauptstadt Reykjavik. Vom Grün ist nichts mehr zu sehen: Um ihn herum ein Meer in den isländischen Nationalfarben blau-rot-weiss.
Zum Public Viewing haben sich knapp 20'000 von Arnasons Nachkommen am Arnahóll-Hügel zusammengefunden - noch einmal mehr als zum Spiel gegen die Engländer. «Hu!», schallt es vom Hügel durch die Stadt. Heute gibt es nichts ausser Fussball auf der Insel.
Eine Greisin mit Pelzkragen ist auf den Hügel hochgewackelt, Teenies mit Bier stehen hier, Eltern mit Kindern: alle wollen Sie ihre Helden sehen. Die Hauptstrasse von Reykjavik ist abgeriegelt. Busse und Autos kommen seit dem Nachmittag nicht mehr durch. Alles will das Spiel sehen.
Knapp eine Stunde vor dem Spiel gibt's kaum noch Platz auf dem Hügel. Die Fans stimmen ein Volkslied an, rufen immer wieder «Áfram Ísland»: Auf geht's Island und den Wikingischen «Hu»-Ruf.
Doch der verhallt zuhörends. Das kleine Land, das grade noch so gross war, scheint auf seine eigentliche Grösse zurückzuschrumpfen. Dort, wo gewöhnlich eine Handvoll Touristen auf den Hafen und die gläserne Konzerthalle blicken, schauen jetzt die Fans ungläubig, da Island nach der ersten Halbzeit 4:0 zurückliegt.
Heute gleisst die Sonne über Reykjavik - vielleicht der einzige Tag in diesem Jahr, an dem es hier sonniger ist als in Paris. Trotz T-Shirt-Wetter friert die Stimmung bei jedem französischen Tor auf Minusgrade.
Dabei hatten sich die Isländer als Favorit gefühlt. Nach England werde man auch Frankreich schlagen, hiess es allenthalben. Enttäuscht erheben sich einige Zuschauer zur zweiten Halbzeit erst langsam vom Wiesenplatz auf.
Erst als Island trifft, sind die Fans wieder wach und feuern ihr Team in Paris von Island aus an. Mit jedem isländischen Treffer splittert ein wenig von der Schockstarre ab. Das 5:2 feiern die Isländer fast wie ein Siegtor.
Denn schliesslich geht es nicht nur um Island gegen Frankreich. Um den Einzug ins EM-Halbfinale. Es geht irgendwie auch um Brennivín-Schnaps gegen Champagner. Fiskisúpa gegen Bouillabaisse. Wikinger-Schlachtruf «Hu!» gegen nobles «Allez!». Kleine Insel gegen La Grande Nation.
Die letzten Minuten: Island liegt zwar zeitlich zwei Stunden vor Frankreich, aber auf dem Platz drei Tore zurück. Der Hügel in Reykjavik wird noch einmal richtig laut. Abpfiff. Stille. Arme in die Höhe. «Hu!». Tausende Hände klatschen zusammen, wie die Wellen an die Küste Islands rollen. «Hu!». Ein letztes Mal feiern die Isländer ihre Mannschaft in dieser EM. «Hu!» Die Wikinger, sie werden wieder kommen. «Hu, Hu, Huuuh!»
Der Hügel leert sich. Glückliche Gesichter. «Auf gewisse Weise haben wir ja gewonnen», sagt eine Frau, die in eine Islandflagge gehüllt ist. «Die Jungs haben uns stolz gemacht!»
Die Bars füllen sich, vor den Hotdog-Ständen wachsen die Schlangen. In einer Kellerkneipe stimmt jemand ein «Auf geht's Island!» an. Draussen, wo die Sonne heute nicht mehr untergehen wird, machen drei Blau-rot-weiss-Geschminkte lachend eine Selfie-Session.
In der immer geschäftigeren Fussgängerzone steht ein Fan und sagt: «Ich bin glücklich. Es war eine grossartige Reise bis hierher. Und das nächste Mal werden wir wieder dabei sein!»