Es ist das Übliche an diesem 11. Mai. Benjamin Siegrist wärmt sich auf wie die Nummern eins und zwei. Wie, wenn er beim Glasgow Derby spielen oder auf der Bank Platz nehmen würde. Doch Siegrists Weg führt eine Etage höher als die Ersatzbank. Auf die Tribüne. Er ist die Nummer drei. Diejenige, die nicht auf dem Matchblatt aufgeführt ist.
Benji ist nach wie vor beliebt
Zwei Stunden später. Celtic hat 2:1 gewonnen und damit die Meisterschaft praktisch auf sicher. Die Spieler verlassen den VIP-Ausgang des Celtic-Parks durch einen bloss mit einfachen Gitterbarrieren gesicherten Korridor in Richtung Parkplatz. Hunderte Fans stehen darum herum. Selfies und Autogramme à gogo. Das ist ein Ritual dort. Siegrist geht nicht diesen Weg. Er geht auf die andere Seite, verlässt die gesicherte Zone nach einem Zeichen an einen Security. Begrüsst uns. Begrüsst Fans aus Basel, die eigens für ihn gekommen sind. Smalltalk. Fotos. Und immer wieder wollen Fans Selfies machen mit der Nummer drei. Sie ist beliebt. Benji hier, Benji dort.
Einjähriges Britannien-Sabbaticle
Das war auch mal anders. Damals, als er nach einem Britannien-Sabbatical-Jahr in Vaduz wieder auf die Insel zurückkehrt. Aber nicht nach England, wo er arbeitete, seit er als 17-Jähriger 2009 vom FCB zu Aston Villa gegangen war. Im Ländle kriegt er Insel-Entzug und unterschreibt bei Dundee United in der zweiten schottischen Liga. Nach Startschwierigkeiten geht er in der ostschottischen Küstenstadt durch die Decke. Es folgt der Aufstieg. Und die sackstarke erste Saison in der ersten Liga. 2021 ist er der Spieler mit den meisten Safes in der Premiership und mit den zweitmeisten Clean Sheets hinter der englischen Goalielegende Joe Hart. «Ich wurde in die Mannschaft des Jahres gewählt», erzählt Siegrist auf der Terrasse eines hippen Italieners in der Peripherie von Glasgow.
Die Schottenliebe entflammt vollends
Nach einem weiteren starken Jahr folgt der nächste Schritt: «Nach dem Spiel gegen Celtic fragt mich deren Goalietrainer nach meiner Handynummer. Ich sollte dort die Nummer zwei werden hinter Hart.» Siegrist unterschreibt. Und erlebt ganz schnell die erste magische europäische Nacht im Celtic Park: Real Madrid. «Das war Gänsehaut pur. Und Toni Kroos sagte später, der Park sei eines seiner Lieblingsstadien geworden.»
Die grosse Schottenliebe ist nun vollends entflammt. «Das hier ist ein echtes Fussballland! Viele leben für diesen Weekend-Moment im Stadion. Und wenn ihr Team gewinnt, geht es ihnen die ganze Woche gut.» Mehr als in England? «Mehr als in England. Klar gibts dort das North London Derby oder das Merseyside Derby. Aber die Rivalität ist nie so stark wie hier. Vor allem, weil der religiöse Hintergrund hinzukommt.» Es gab Spieler und Trainer, die nach einem Wechsel weg aus Glasgow offen bekannten, froh zu sein, dieses religiöse Zeugs losgeworden zu sein.
Nach Niederlagen gehts nicht aus dem Haus
Siegrist nennt weitere Beispiele für den krassen Fanatismus. «Neue Spieler von Celtic werden unter falschem Namen im Hotel eingebucht. Und nach Niederlagen sollte man sich als Celtic-Spieler besser eine Zeit lang nicht auf der Strasse zeigen, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen will, angepöbelt zu werden.» Celtic hat das Spiel zuvor gewonnen. Siegrist kann also unbehelligt durch die wunderschönen Glasgow Botanic Gardens spazieren, die er als Kulisse für das Shooting erkoren hat. Ein Kraftort für ihn. Siegrists Faszination für die Insel und speziell für Schottland scheint grenzenlos. «Wenn ich am Weekend in der Schweiz bin, zieht es mich sehr schnell nach Hause.» Nach Hause, das ist hier in Glasgow.
Der Nationalmannschaft hingegen traut er nicht sehr viel zu. Es werde schon als grosser Erfolg gesehen, dabei zu sein. «In unserer obersten Liga spielen immer noch acht, neun Teams eine Art Kick’n’Rush. Sie halten dies für eine erfolgversprechende Methode. Was legitim ist, klar. Und wenn man viele Plätze in Schottland anschaut, dann ist gepflegtes Passspiel schwierig. Die Taktik wird dann dem Level der Spieler angepasst.»
Die Mehrheit der Schotten kicken in Englands zweiter Liga
Und wenn man dann noch sehe, in welchen grossen Klubs die Schweizer Stars unter Vertrag stünden – dann sei klar, wer gewinnen müsste. «Logisch haben die Schotten einige Spieler aus der Premier League im Kader. Aber niemals eine derartige Bandbreite wie die Schweiz, mit Stars aus der Bundesliga, der Premier League, der Serie A und der Ligue 1. Bei uns kicken die meisten in der Championship, der zweiten englischen Liga …»
«Das war wie Kids gegen Männer ...»
Das hat sich beim Auftritt gegen Deutschland brutal offenbart. «Irgendwie war ein Sieg von Deutschland zu erwarten. Aber ich hatte schon gehofft, Schottland würde hartnäckiger sein und es falle knapper aus. Das war eine grosse Enttäuschung! Die kamen nie aus den Startlöchern. Die Dominanz der Deutschen im Mittelfeld war frappant.» Das sei gewesen wie Kids gegen Männer.
Epilog
Die Start-Pleite gegen Deutschland ist aber nicht dafür verantwortlich, dass die grenzenlose Liebe zu Schottland beim Turm aus Therwil BL Risse erhalten hat. Bei Celtic haben sie ihn quasi rausgeekelt. In seiner ersten Saison dort ist er, wie versprochen die Nummer zwei. Sein Versprechen, Hart Dampf zu machen, kann er nicht einlösen. Zudem verletzt er sich Anfang 2023 schwer. Neue Saison, kein neues Glück. Im Gegenteil: Er wird zur Nummer drei degradiert. Und will weg. Er hat mehrere Optionen. Doch Celtic lässt ihn trotz anfänglichen Zusagen nicht gehen. Siegrist ist frustriert, macht aber gute Miene zu bösem Spiel. Doch es wird noch schlimmer: Er wird nicht mal für die Champions League gemeldet. Man setzt den Nachwuchsgoalie als Nummer drei auf die Liste. Im Winter dasselbe Spiel: Gute Optionen, doch am Ende sagt der Klub Nein.
Und nun, diesen Sommer? «Nach dem letzten Arbeitstag verreise ich so schnell wie möglich. Und kehre auch nie mehr hierher zurück.» Damit meint er nicht Schottland, sondern Celtic, wohlgemerkt. Er kommt mit dem Klub überein, trotz Vertrags bis 2026 ablösefrei gehen zu können. Die Destination: Australien! Dort lebt seine neue Flamme Brittany Hockley, ein Reality-TV- und Podcast-Star. Seine Augen glänzen, als er von Britt erzählt. Im Juni hält er um ihre Hand an. Heisst seine nächste Fussball-Destination deshalb Australien? Siegrist: «Nein. Ich werde dort in den Ruhestand gehen. Aber noch nicht jetzt.» Britt habe schon angedeutet, sie könne ihren Podcast auch aus Europa heraus machen. Wir sind gespannt.