BLICK: Martin Kallen, die Gruppenspiele sind vorbei. Zeit zum Durchschnaufen?
Martin Kallen: Nein, es gibt immer noch viel zu tun. Man müsste schon irgendwo weit weg sein, um durchschnaufen zu können. Jetzt müssen wir die Achtelfinals vorbereiten.
Wie fühlt man sich, wenn man für alle Probleme dieser Euro als Sündenbock herhalten muss?
Wir sind der Organisator dieses Anlasses. Da braucht es einen breiten Rücken. Das gehört zum Business.
An welchen Problemen trägt die Uefa denn Schuld?
Es gibt immer Dinge, die man im Nachhinein anders hätte machen können. Oder Dinge, die man nicht beeinflussen kann wie das miese Wetter. Es gibt immer Dinge, die nicht so sind wie gewünscht. Es kommt nicht immer alles, wie man es gerne hätte.
Gehen wir ins Detail. These: Die Uefa hat nach den ruhigen Europameisterschaften 2008 und 2012 die Hooligan-Problematik unterschätzt.
Wir haben immer Analysen gemacht, wussten, dass Hooligans unterwegs sein könnten. Die Aufstockung auf 24 Mannschaften hat Zusatzprobleme generiert. Aber echte Probleme gabs nur in Marseille, als die Russen auftauchten. Im Stadion drin, wo wir verantwortlich sind, gabs einen kurzen Übergriff in einen anderen Sektor. Aber das hatten wir innert fünf Minuten im Griff. Wir müssen die Situation sicher analysieren und schauen, das wir im Vorfeld präventiv mit den Landesverbänden zusammen noch mehr machen können. Insgesamt war es aber ruhig. An einem von 36 Spielen hab es echte Probleme. Ganz verhindern kann man diese nicht. Dazu liegt Frankreich zu zentral in Europa und kann man zu leicht und auf verschiedenen Wegen einreisen.
Warum waren russische und englische Fans in Sektoren, die aneinandergrenzen? Das hat doch den Übergriff erst möglich gemacht.
Im Stadion gibt es zwei Konzentrationen der Fangruppen. Das ist hinter den Toren. Billette für die neutralen Sektoren konnten frei erworben werden oder wurden im Internet weiterverkauft. In den gemischten Sektoren haben wir sonst nie Probleme gehabt. Wir wollen ja keine strikte Sektorentrennung mehr wie früher. Das könnte man schon immer noch machen. Aber dann dürfte man diese Tickets nur an Neutrale verkaufen. Und die könnten sie ohnehin weiterverkaufen.
Die französische Polizei hat in Marseille versagt. Sehen Sie das auch so?
Das ist eine Frage der Philosophie. In der Schweiz oder auch in Deutschland gibt es drei Stufen der Intervention: Diskutieren, deeskalieren – und eingreifen. In Frankreich werden die ersten beiden Stufen vernachlässigt, da schaut man zuerst einmal einfach zu, Und greift dann ein.
Sind sie froh, dass die Russen weg sind?
Sie sind sportlich draussen. Fertig. Wir hätten auch problemlos mit den Russen weitergemacht. Und in den Spielen zwei und drei der Russen war es ja ruhig.
Verstehen Sie die vergleichsweise milde Strafe von 100'000 Franken gegen Kroatien für das Anzünden und Werfen von Pyros aufs Spielfeld?
Ein solcher Entscheid der Disziplinarkommission, während eines Turniers ist immer ganz heikel. 100'000 Franken ist kein Pappenstiel. Das Problem Kroatien ist ein langwieriges. Irgendwann braucht es da eine Lösung, und die muss aus dem kroatischen Umfeld kommen.
Wäre denn ein Ausschluss Ihres Erachtens angebracht gewesen?
Dafür hätte es wohl einen zweiten Fall gebraucht. Und den gab es nicht.
Nächstes leidiges Thema: Die Rasen. Für die Franzosen ist klar: Die Uefa ist schuld am Debakel!
Jemand muss ja schuld sein. Und wir sind – wie gesagt – der Organisator. Aber es gibt Stadionverträge, in denen steht klipp und klar, das die Rasen internationales Format haben müssen. Und das ist Sache der Stadionbetreiber.
Die französische Rasengesellschaft hat in einem Communiqué gesagt: «Wir sind kein bisschen verantwortlich für die Inkompetenz und die Sabotage durch bezahlte Söldner!» Ist ja klar, wen sie meint...
Seit zwei Jahren verfolgen wir die Rasen zusammen mit den Stadienbetreibern sehr genau. Aber bei jedem Naturprodukt, das kurz vor einem Anlass ersetzt wird, besteht die Gefahr, dass etwas nicht gut kommt. Wir haben die Rasen nicht ausgetauscht.
Aber Sie haben die Order gegeben!
In Marseille war der Rasen nach einem Rockkonzert schlicht kaputt. Da hatten wir keine Wahl. In Nizza wollten die Stadionbetreiber den Rasen wechseln, das war auch okay. In Lille soll aber derjenige, der uns angegriffen hat, sich zuerst einmal überlegen, ob er alles hundertprozentig richtig gemacht hat. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Jetzt haben Sie eine Andeutung gemacht. Jetzt müssen Sie mehr sagen.
Es gab verschiedene Schwierigkeiten. Durch das Dach fällt wenig Sonnenlicht ins Stadion und es ist schlecht belüftet. Da gedeiht ein Rasen halt weniger gut. Dazu kam starker Regen.
Ein zu nasser Rasen, der schlecht belichtet und belüftet ist, geht kaputt, wenn er zu stark benutzt wird. Nun ist er am Donnerstag ersetzt worden. Wie bei der EM 2008, als man nach sintflutartigen Regenfällen den Rasen im St.-Jakob- Park ersetzen musste. In Lille hat es aber nie so geregnet.
Unterschätzen sie das nicht! Am Tennisturnier von Rolland-Garros gabs genau einmal Sonne in zwei Wochen – als Novak Djokovic den Pokal in die Höhe stemmte. Kommt hinzu, dass die Rasen sehr stark benutzt werden. Alle paar Tage, dazu gibt es Trainings drauf. Das ist viel mehr als während der Meisterschaft.
Ein weiterer Vorwurf: Die Uefa hat eigenmächtig gehandelt und die lokalen Stadionverantwortlichen zu wenig mit einbezogen.
Die Frage ist: Mit welchen lokalen Leuten man zusammenarbeiten muss. Es hat eine gewisse Beratung gegeben. Aber nochmals: Wir sind gemäss Vertrag nicht für den Rasen zuständig. Aber wenn wir sehen, dass etwas nicht funktioniert, müssen wir doch etwas machen!
Auch im Stade de France ist der Rasen schlecht!
Im Januar wurde da ein neuer Rasen verlegt, dasselbe Produkt wie im Wembley-Stadion oder im Parc des Princes, wo der Rasen übrigens überragend ist. Die Leute, die ihn für Paris Saint-Germain herrichten, sind Spitzenklasse! Der Rasen im Stade de France hingegen war nie dafür bekannt top zu sein. Er ist ja auch schon vom französischen Verband und vom Nationaltrainer scharf kritisiert worden. In einem Stadion, in welchem kein Klub spielt, gibt es Events aller Art. Die führen immer zu Problemen für den Rasen. Und der hat dann nicht aller-allererste Priorität.
Thema Tickets. Es gab bis zum Schluss Billette zu kaufen, auch auf der Uefa-Homepage, und viele Sitze blieben leer. Was ist da schief gelaufen?
Wir haben über 2,5 Millionen Tickets verkauft, 99 Prozent. Dass wieder einige verfügbar waren, hat mit dem Stakeholder-Management zu tun. Da waren einige Anfragen viel zu hoch. Da gibt es dann halt Verschiebungen, Tickets, die zurückkommen. Aber die kann man dann am Schluss immer noch verkaufen.
Wie schauts für die Achtelfinals aus?
Da kommt es drauf an, wer sich qualifiziert hat. Aber es sollten noch Tickets auf den Markt kommen. Die Verbände erhalten je 4000 Billette. Sie haben nur kurz Zeit, um die an den Mann zu bringen. Nicht alle werden deshalb diese 4000 Tix nehmen. Die grossen Nationen natürlich sicher, weil die davon ausgingen, dass sich ihr Team qualifizieren würde. Aber wer hätte gedacht, das es zum Beispiel Island schafft? Aber auch diese Billette werden wir problemlos verkaufen. Kommt hinzu, dass die Leute im Internet-Zeitalter alles immer kurzfristiger planen und entsprechend auch buchen.
In Frankreich hört man oft den Vorwurf, die Tickets seien überteuert.
Das stimmt nicht. Die billigsten Plätze kosteten in den Gruppenspielen 25 Euro. Da ist man schon fast auf Kino-Niveau. Nur ins Kino kann man jeden Tag und überall gehen, derweil die Euro alle vier Jahre stattfindet und der drittgrösste Sportanlass der Welt ist. Die teuersten Tix kosteten 145 Euro. Ein grosses Konzert kostet locker diesen Preis.
Was ist Ihre persönliche sportliche Bilanz?
Es gab Überraschungen. Ungarn oder Island dominieren ihre Gruppe. Und es hat sich kein Team richtig absetzen können. Keines hat seine Stärke durchgehend an den Tag gelegt. Es wird sicher schwierig sein, Italien, Spanien oder Kroatien zu schlagen. Ach ja, es haben sich alle Briten qualifiziert, das ist auch aufgefallen. Und kein einziges Team ist abgefallen.
Das spricht für den 24er-Modus.
Es sieht so aus. Für die Stimmung war es sicher gut, 24 Länder dabei zu haben. Was die Fans der Waliser, Iren, Nordiren, Isländer und Albaner geboten haben, war toll.
Letzte Frage: Für die Achtelfinals kommt nun ein neuer Ball zum Einsatz. Nach dem Beau Jeu nun der Fracas. Ist das: Erstens, um Geld zu machen? Oder zweitens, weil Valon Behrami den Beau Jeu zerstört hat?
(lacht) Das wird schon lange so gemacht, dass es einen Ball für die Finalrunde gibt, seit der EM 2008. Das ist ein Marketing-Tool.