Der erste Schritt auf dem Weg zur ersten WM-Qualifikation der Schweizer Nati seit zwölf Jahren war gemacht. Das Barrage-Hinspiel im November 2005 gegen die Türkei wurde dank einer starken Leistung 2:0 gewonnen, die Tore hatten Senderos und Behrami erzielt. Doch die wahre Prüfung stand den Schweizern erst noch bevor. Die Partie im Şükrü-Saracoğlu-Stadion in Istanbul sollte vier Tage später zu einer der denkwürdigsten der helvetischen Fussballgeschichte werden. Mehr als 15 Jahre danach wollen wir mit drei Protagonisten über ihre Erinnerungen plaudern. Dafür haben wir eine Aufzeichnung jenes aufwühlenden Spiels im Gepäck. Kaum startet die Übertragung und erklärt Alain Sutter dem SRF-Publikum und Matthias Hüppi, wie wichtig es sei, dass sich die Nati mutig präsentiere, legen die Ex-Profis los.
Daniel Gygax: Normalerweise wären wir nach dem Hinspiel wohl noch auf die Gasse gegangen.
Beni Huggel: Wir fuhren im Car von Bern nach Feusisberg, die Stimmung war natürlich super. Wir gönnten uns ein Bier, sangen Lieder und hörten Musik.
Marco Streller: Solche Ballermann-Hits wie «Erna Schabulski». Jedenfalls nicht Gygis Geschmack.
Huggel: Wir waren erst nach Mitternacht im Hotel, schon richtig heiss darauf, den Sieg im Ausgang zu feiern. Doch Köbi Kuhn berief uns noch zu einer Sitzung ein. Er sagte, wir hätten uns eine super Ausgangslage geschaffen, jetzt stehe das Rückspiel an, darum sei gute Erholung sehr wichtig …
Gygax: Und wir alle: «Bitte nicht! Bitte nicht!»
Huggel: Schliesslich sagte er es: Wir sollten doch bitte im Hotel bleiben. Und fügte an: «Und wenn ihr trotzdem weggeht – lasst euch nicht erwischen.»
Streller: Aber keiner ist gegangen. Auch wenn wir natürlich nicht direkt ins Bett gingen (schmunzelt).
Huggel: Was uns im Rückspiel erwarten würde, konnten wir da noch nicht ahnen.
Gygax: Ich bin mit vielen Türken aufgewachsen. Im Vorfeld habe ich mit einem telefoniert, der sagte mir schon damals: «Schnallt euch an! Das wird richtig übel werden.» Da habe ich noch gelacht.
Huggel: Mich hat Christoph Preuss, mein damaliger Mitspieler bei Frankfurt, auch vorgewarnt. Er hatte ein Jahr zuvor mit der deutschen U21 dort gespielt und ungute Erfahrungen gemacht. Mich hat das nicht beunruhigt. Ich dachte, es komme ein schwieriges Auswärtsspiel, wie ich schon Dutzende gemacht hatte.
Streller: Wir wussten, dass es laut und hektisch werden würde im Stadion. Dann waren wir in Istanbul gelandet, die Flugzeugtür ging auf, und da hing diese Fahne: «Welcome to Hell». Dahinter war schon ein riesiges Geschrei.
Gygax: Vom Flugzeug bis zum Gate standen die Leute Spalier, Arm in Arm. Wir mussten uns zwischendurchzwängen, und alle riefen: «Beş! Beş! Beş!» Also fünf, so viele Tore würden wir bekommen. Als wir endlich bei der Passkontrolle waren, war dort nur ein einziger Schalter offen.
Streller: Alex Frei stand etwa eine Stunde am Schalter. Der Beamte hatte den Pass beiseite gelegt und las seelenruhig Zeitung. Das Warten war mühsam, aber schlimm war es noch nicht.
Huggel: Als wir nach eineinhalb Stunden endlich durch die Kontrolle waren, war unser Gepäck immer noch nicht da. Dafür standen Flughafenangestellte mit Fahnen auf dem Rollband und schrien. Einige standen vor Köbi hin und zogen ihm die Fahne über den Kopf. Da meinte Philipp Degen, jetzt müssten wir eingreifen. Wir bauten uns dann vor Köbi auf, um ihn zu schützen.
Streller: Schliesslich wurde entschieden, dass wir schon mal ins Hotel gehen sollten, während die Physios auf das Gepäck warteten. Das waren schon arme Sieche.
Huggel: Draussen ging es erst richtig los. Da waren diese Leute mit den Zetteln – «Hurrenson» und so. Wir wurden angerempelt, beschimpft, bespuckt.
Streller: Irgendwie haben wir es dann in den Bus geschafft. Aber wir kamen nur bis zu einer Kreuzung, da hatten uns welche auf Töffli eingeholt und bewarfen uns mit Steinen, Scheiben gingen zu Bruch.
Huggel: Da war uns schon klar, dass das eine orchestrierte Aktion war. Wir waren froh, als wir endlich im Hotel waren, hinter hohen Mauern. Eigentlich wäre noch ein Training im Stadion auf dem Plan gestanden, aber wir waren alle so geschockt, dass wir das ausliessen. Stattdessen spielten wir 5 gegen 2 auf der Marmorterrasse des Hotels, keine ideale Matchvorbereitung …
Gygax: Die zwei Tage vor dem Spiel waren dann ziemlich ruhig. Es gab noch diese inszenierte Versöhnung zwischen den Verbandspräsidenten, und wir konnten uns normal auf das Spiel vorbereiten. Oh, jetzt gehts los, Beni Thurnheer hat übernommen.
Die Spieler stehen für die beiden Nationalhymnen in noblem Dunkelblau da. Es gab ja beim Hinspiel energische Proteste der Türken, weil die Schweizer die türkische Nationalhymne ausgepfiffen hatten. Die Retourkutsche wird jetzt sicher folgen.
Gygax: Die türkischen Zuschauer haben hier so laut gepfiffen, dass wir nicht einmal mitbekommen haben, wann die Hymne eingespielt wurde.
Huggel: Wir wissen bis heute nicht, ob sie die wirklich abgespielt haben. Jetzt die türkische Hymne, und das ganze Stadion singt lautstark mit. Natürlich ist das beeindruckend, aber das ist es auch, wenn in Frankreich die Marseillaise hingeschmettert wird.
Schiedsrichter De Bleeckere gibt den Ball frei. Das Spiel, das alles entscheidet, hat begonnen.
Huggel: Nach dem Spiel wurde gesagt, De Bleeckere habe es unter diesen Umständen gut gemacht. Dabei war er eine Katastrophe.
Streller: Ha! Das haben wir von Christian Gross abgeschaut: gleich ein langer Ball und dann vorne drauf. Schon einen Einwurf gewonnen.
(1. Minute) Frei hat Wicky eingesetzt, auch er war gesperrt, jetzt wieder dabei. Die Chance für Frei … Ein Handspiel? So sah es aus. Jawohl, es gibt Penalty für die Schweiz!
Huggel: Oh, là, là, Alex! Sauber gemacht!
Streller: Das macht er sensationell. Dieser Lupfer über Alpay! Penalty, noch keine Minute gespielt. Aber seht ihr, der Schiri hat schon ein bisschen gezögert.
Gygax: Das war ein glasklares Hands. Zum Glück, sonst hätte er kaum gepfiffen. Fatih Terim ist wahrscheinlich fast explodiert auf der Bank.
Huggel: Alex hat mich jeweils gefragt, wie er den Elfmeter schiessen soll. Ich sagte stets: «Wie immer.» Der machte jeden rein.
(2.) Tooor! 1:0 für die Schweizer in der 2. Minute. Die Türken brauchen jetzt vier Tore, um die Schweizer noch von der WM wegzubefördern. Es fliegen Stecken auf den Platz.
Gygax: Beim Jubeln sieht man schon, was sich da alles aufgestaut hat. Wir sind ja alle am Schreien.
Streller: Ich weiss gar nicht mehr, was für einen Matchplan wir hatten. Jedenfalls machten wir auf der Bank fast schon die Flasche auf (lacht).
Huggel: In so einer Situation darf man dennoch nichts ändern. Da musst du weiterhin vorne Nadelstiche setzen, sonst wirst du erdrückt.
(9.) Das war ein Foul von Degen. Und Tunçay verlangt eine Gelbe Karte.
Streller: Ui, schau mal, wie die reklamieren! Und jetzt kriegt Philipp Gelb!
Huggel: Der Schiri hätte hier gleich Tunçay Gelb zeigen sollen, den Tarif durchgeben. Stattdessen lässt er sich hier beeinflussen und zeigt Philipp Gelb für nichts. So macht er sich das Spiel nicht einfacher. Gut, dass wir dennoch ruhig bleiben.
Streller: Gygi zieht allein das Pressing auf (lacht).
Huggel: Wir haben schon sehr wenig Ballbesitz. Da hat man schon gespürt, dass diese Geschichte noch nicht geschrieben ist.
Streller: Aber sie hatten noch keine Torchance bis jetzt.
Gygax: Das gibts ja nicht! Hat der jetzt den zu hohen Ball einfach mit der Hand runtergepflückt? Und kriegt nicht Gelb dafür?
Huggel: Ich sage ja, der Schiedsrichter war nicht gut.
(15.) Spycher hat sich gut ins Team eingefügt. Und hier hat der türkische Spieler meiner Meinung nach den Ball gespielt.
Streller: Wenn Wuschu auf dem Boden liegt, wars bestimmt keine Schwalbe.
Huggel: Die steigen schon sehr hart ein. Auch wenn er den Ball trifft, Foul ist das trotzdem.
Streller: Aber der Freistoss dann direkt ins Abseits … Alex zu früh gestartet.
Huggel: Alex musste halt so spielen, weil er nicht der Schnellste war. Immer an der Kante.
Streller: Philipp ist da ja sogar noch weiter vorne als er. Und dann rennt er gleich wieder zurück. Läck, der hatte schon Power!
Gygax: Degen war schon sehr offensiv.
Huggel: Müller kriegte jedes Mal fast einen Herzinfarkt, wenn Philipp nach vorne spurtete.
Streller: Er war ein extrem moderner Aussenverteidiger. Wenn er nicht so oft verletzt gewesen wäre, hätte er zu den besten in Europa zählen können.
(21.) Foul von Cabanas. Ah, hier unten schlägt Emre noch nach.
Streller: Emre, Tunçay und Volkan waren die Schlimmsten in diesem Spiel.
Huggel: Auch wenn es so hitzig zu- und hergeht, merkt man sich immer, wer fair spielt und wer weniger. Es ist nicht so, dass man die ganze Mannschaft in eine Schublade steckt.
Streller: Es waren nur drei, vier der Türken, die es übertrieben. Der Rest war völlig in Ordnung. Zuvor hat Selçuk Gelb für ein Foul bekommen, aber der hat sich gleich entschuldigt.
Gygax: Hakan Şükür war auch ein richtiger Monsieur: immer fair, immer korrekt.
(24.) Es gibt Freistoss. Und jetzt ist der Ausgleich da. 1:1 durch Tunçay.
Huggel: Ich weiss nicht mehr, wer ihm zugeteilt war. Normalerweise teilt man vier, fünf Spieler fix einem Gegenspieler zu, und Tunçay war bestimmt dabei. Barnetta ist da zwar mit ihm im Duell, aber das war sicher nicht sein Mann. Katastrophal war das.
(28.) Und dann Müller. Und Foul an Gygax. Beim Sturz hat sich Gygax an der Schulter verletzt. Kann er weiterspielen? Im Moment werden die Fahnenstecken nach ihm geschmissen.
Streller: Heftiges Foul!
Huggel: Ist der dir mit dem Knie in die Schulter gesprungen?
Gygax: Ja, ab da war ich kaputt.
Streller: Ich wurde zum Einlaufen geschickt. Allein. Das war nicht sehr angenehm, direkt vor den Rängen.
Gygax: Ich hatte extreme Schmerzen. Es gab Eisspray, ein paar gute Worte, und dann musste ich wieder raus. Ich wollte unbedingt weiterspielen, aber es machte keinen Sinn. Man sieht ja von weitem, dass ich nicht mehr rund laufe und nicht in die Zweikämpfe gehe. Da, ich mache ja auch das Zeichen zur Bank.
Streller: Ich war noch nicht warm, Gygi!
Huggel: Marco hatte wohl die Schuhe noch nicht gebunden oder die Schienbeinschoner verhühnert (lacht).
Streller: Es war sicher nicht das einfachste Spiel, um reinzukommen. Aber natürlich wollte ich eingewechselt werden!
Huggel: Ich wollte auch immer rein, ausser beim 0:7 mit Basel gegen Bayern, da habe ich dankend darauf verzichtet.
Gygax: Ich habe mich natürlich nochmals hingelegt (schmunzelt). Die paar gewonnenen Sekunden nimmt man gerne mit. Dann gibt man dem Physio ein Zeichen, dass es nicht ganz so schlimm ist, dann weiss der Bescheid. Hier wollte ich möglichst langsam vom Platz gehen, aber ich wurde von allen geschubst, bis ich dann bei dir war für die Auswechslung.
Streller: Ui, da hatte ich ja Locken wie ein Schäfchen (lacht)! Und unsere Trikots waren viel zu gross!
(35.) Die Distanz zum Tor: knapp 30 Meter. Schade, ist Magnin nicht dabei. Entweder Cabanas oder Frei.
Streller: Willst du jetzt von da schiessen, Alex?
Huggel: Ich hoffe nicht.
Streller: Oh, der Ricci! Guter Schuss. Cabanas war schon extrem mannschaftsdienlich. Wir hatten echt ein geiles Team damals.
Huggel: Und einen super Zusammenhalt. Da gab es keine Grüppchen.
Streller: Stimmt, so was habe ich sonst bei keiner Mannschaft erlebt. Die Romands waren vielleicht mehr zusammen, aber Magnin, Wicky und Müller waren ja zweisprachig, darum haben wir uns gut vermischt.
Gygax: Ob einer beim FCB, beim FCZ oder bei GC war, spielte überhaupt keine Rolle. Wir waren sehr oft alle zusammen.
Huggel: Ui, das war ein hartes Foul von Degen. Zwar kein absichtliches, er rutscht ja aus und trifft so Hakan Șükür mit gestrecktem Bein. Wir hatten auf der Bank ständig Angst, dass er noch vom Platz fliegt. Darum wurde er auch zur Pause ausgewechselt.
(38.) Ooooh, Zuberbühler schaut zu, Hakan Şükür trifft in der 38. Minute. Jetzt wirds natürlich langsam, aber sicher heiss. Şükür hat den Treffer nicht selber erzielt, in der Mitte kam noch einer. Der Ball wäre wahrscheinlich ohnehin rein. Hier haben wir den Schützen, es ist schon wieder Tunçay.
Huggel: Das darf nie ein Tor geben. Wenn Wuschu gegen Şükür ins Kopfballduell muss, stimmte zuvor einiges nicht.
Gygax: Da haben wir uns schon langsam Sorgen gemacht. Ich bin ja nach meiner Auswechslung auf der Bank geblieben, in die Kabine konnte ich nicht. Die war auf der anderen Seite und der Eingang voller Leute. Ich wollte sowieso lieber bei der Mannschaft sein.
Streller: Nach dem Tor wurde es auch gleich wieder lauter im Stadion. Es war unmöglich, Anweisungen von der Bank zu verstehen, auf dem Feld haben wir nichts gehört.
Gygax: Sogar wir Spieler mussten uns anschreien.
Streller: Wir organisierten uns sowieso selber. Es war ja die Nati, da wusste jeder, was er zu tun hat.
(41.) Foul an Streller. Das ist ein ganz giftiger, der Tolga Seyhan.
Gygax: Grätsche von hinten, und es gibt nicht Gelb?
Huggel: Du stehst viel zu schnell auf, Marco!
Streller: Wenn man da liegen blieb, zerrten immer alle an einem rum, da waren Füsse und Hände überall.
Huggel: Ich wusste schon noch, dass die Türken hart einstiegen. Aber dass es so viele und so gefährliche Fouls waren …
Gygax: Freistoss kurz zu Alex. Den Ball halten, wie er es hier macht, das konnte er schon sehr gut.
Streller: Und hier kommt die Sushi-Rolle! So nannten wir das immer, wenn sich Alex im Zweikampf so drehend fallen liess.
Gygax: Du musstest da ja auch allein Pressing machen, Marco.
Huggel: Pressing mit Alex war wirklich nicht einfach. Er hatte unglaubliche Qualitäten, aber Pressing gehörte wahrlich nicht dazu.
(45.) Streller liegt am Boden – Volkan hat ihn getroffen.
Streller: Voll an den Helm!
Huggel: Super Kopfball (lacht).
Streller: Das war ein Strich. Ich bin direkt zusammengeklappt.
Huggel: Aber das gibts ja nicht! Du liegst da am Boden, umringt und bedrängt von Türken – und von uns ist keiner da? Ich wäre sofort dort gewesen, das weisst du ja.
Gygax: Da steht dir ja noch einer auf die Hand! Und Volkan schubst dich rum. Das war wirklich ein Unsympath erster Güte.
Pause. 2:1 führt die Türkei. Die vierte Halbzeit in diesen zwei Spielen wird entscheiden müssen, der Vorteil der Schweizer war auch schon grösser.
Gygax: Viele Chancen hatten die Türken eigentlich nicht.
Huggel: Nein, aber wir hatten den Ball nie lange. Nach zwei, drei Pässen hatten sie ihn stets wieder. Solche Spiele gibt es heute nicht mehr auf diesem Niveau, der Ballbesitz wechselt nicht mehr so häufig.
Gygax: Der Ballführende wurde auch immer stark unter Druck gesetzt. Sehe ich das falsch, oder hat man heute manchmal sogar mehr Zeit?
Huggel: Es sind eher die Spieler nochmals besser geworden, vor allem technisch. Damals passierten unter Druck noch mehr Fehler. Patrick Müller beispielsweise haben wir damals gefeiert für seine Ruhe im Aufbau, jetzt sahen wir aber doch einige unkontrollierte Befreiungsschläge, die heute keiner mehr machen würde. Heute bezieht auch jede Mannschaft den Goalie als hintersten Feldspieler mit ein, das gab es damals noch nicht.
Streller: Dafür habe ich das Gefühl, dass die Verteidiger damals noch besser verteidigten und im Zweikampf stärker waren. Das hat man mittlerweile etwas geopfert für spielstärkere Defensivspieler.
Huggel: Ich weiss gar nicht mehr, was bei uns in der Pause in der Kabine ablief damals.
Streller: Hm, ich habe auch keine Erinnerung daran. Wahrscheinlich haben Zubi und Ricci Dampf gemacht.
Gygax: Köbi war eher einer, der uns aufforderte, ruhig zu bleiben. In den Ansprachen vor den Spielen tönte es zum Beispiel einfach: «Männer, was soll ich euch sagen? Es ist alles gesagt. Macht alle stolz.»
Huggel: Taktisch hast du in der Nati natürlich weniger Möglichkeiten als in einem Verein. Er hat sich bei seinen Taktikbesprechungen sehr eng an dem orientiert, was der Verband vorgab. Da gab es diesen Kreis, der alle Phasen im Spiel darstellte – Ballbesitz, Ballverlust, Ballgewinn –, und dieser Kreis kam immer und immer wieder vor.
Gygax: Das heisst aber nicht, dass wir ihn nicht respektiert hätten.
Huggel: Natürlich nicht! Er war ja der bessere Nati-Spieler als wir alle drei zusammen.
Streller: Er war genau das, was wir als Mannschaft gebraucht hatten. Zwischenmenschlich war er fantastisch!
Gygax: Köbi hat dich im Training auch mal auf die Seite genommen und mit dir über Gott und die Welt geredet. Da hast du dich gleich super aufgehoben gefühlt. Wie wenn du mit deinem Grossvater sprichst.
(50.) Ergün wird den Freistoss treten, einer der sechs Neuen, Uefa-Cup-Sieger 2000 mit Galatasaray Istanbul. Natürlich hoch, natürlich gefährlich … und Penalty! Den würde ich gerne in der Zeitlupe sehen.
Streller: Ja, ich weiss: Stürmer im eigenen Strafraum … Ich ziehe den Fuss noch zurück. Natürlich hat der Türke den Penalty gesucht. Aber einem Verteidiger, der diese Szenen gewohnt ist, passiert das nicht.
Gygax: Ui, das Gesicht, das Alpay beim Jubeln macht. Der war echt am Kochen. Du hast doch später mit ihm zusammengespielt bei Köln. Wie war der da?
Streller: Da war er ganz anders. Ziemlich umgänglich und nett.
(59.) Senderos – wieder Flüchtigkeitsfehler. Bedingt einen Rückpass auf Zuberbühler und einen Pass auf gut Glück nach vorne. Eine schwierige Phase für die Nati.
Gygax: Es gibt niemanden, der wirklich spielen will. Es bietet sich kaum einer an.
Streller: Und Frei ist vorne allein gegen fünf.
Huggel: Das wäre in der heutigen Nati anders. Da würde sich etwa Xhaka jederzeit anbieten und den Ball verlangen.
Gygax: Vogel hatte ein super Positionsspiel und war sehr ballsicher. Aber er war nicht der, der das Spiel auch mal schnell gemacht hat. Und er dirigierte viel weniger, als es Xhaka heute tut.
Huggel: Ich war da schon beim Einlaufen, die Zuschauer warfen Gegenstände nach mir. Da habe ich mich dann zu Yıldıray Baştürk gesellt und bin immer in seinem Schutz gelaufen (lacht).
Streller: Köbi war ja auch richtig emotional!
Huggel: Ja, er steht vor der Bank, das ist ein untrügliches Zeichen (alle lachen). Aber wenn du zehn Jahre unter Christian Gross gespielt hast, bist du dir ganz anderes gewohnt.
(79.) Streller, das Tor ist leer! In der Mitte Frei frei. Aber Steller versuchts allein! Was war das für ein unmotivierter Ausflug von Torhüter Volkan?
Huggel: Lass dich doch fallen!
Gygax: Er hat dich ja schon berührt am Fuss?
Streller: Ich glaube schon, jedenfalls bin ich ins Torkeln geraten.
Huggel: Und dann flankst du hinters Tor? Und das mit deinem starken Fuss!
Streller: Ich weiss ehrlich gesagt auch nicht, was ich da versucht habe.
(84.) Es ist riskant, es riecht nach Tor. Jetzt ein Rundschlag von Tolga, den die Nati ausnützen sollte. Streller kommt! Jetzt aber, bitte … jaaaa!
Gygax: Geile Kiste!
Streller: Wenn Volkan mit den Händen runtergeht, dann hält er ihn.
Huggel: Viel Platz hattest du also nicht mehr, der Winkel war schon recht spitz.
Streller: Wenn du den Ball auf dem starken Fuss hast, kannst du dich ziemlich weit abtreiben lassen. Das war eine riesige Erleichterung, das sieht man unserem Jubel auch an. Ich hatte noch nie ein wichtigeres Tor erzielt, der Moment war unglaublich.
Huggel: Hast du das gesehen, als eben Degen und Magnin eingeblendet wurden, die in den Katakomben das Spiel am TV schauten? Die zwei hinter ihnen?
Streller: Ha, ha, das sind die zwei Dopingkontrolleure aus Basel! Die Kontrolleure wurden zufällig eingeteilt von der Uefa, und so sind die beiden da gelandet. Die mussten englisch mit uns reden und durften natürlich nicht jubeln.
Gygax: Sie hatten aber schon kurz die Hände oben, bevor sie es gemerkt haben.
Streller: Nach dem Tor wurde ich gleich ausgewechselt. Wir dachten einmal mehr: Jetzt haben wir es geschafft.
Huggel: Und ich kam rein. Ich habe keine Erinnerung an irgendwelche Spielszenen von mir. Und warum ich die 14 trage, ist mir auch schleierhaft.
(89.) Frei wird ausgepfiffen. Ich glaube, die Zuschauer resignieren jetzt doch auch ein bisschen, verlegen sich auf Nebenkriegsschauplätze, auf Beschimpfungen. Achtung! Der Ball ist drin in der 89. Minute. 4:2. Oi, oi, oi, und noch einmal werden wir zittern.
Huggel: Das war völlig unnötig.
Gygax: Für die Zuschauer zu Hause muss das die Hölle gewesen sein.
Huggel: Dieses Bibbern, dieses Hoffen, das kennt man auf dem Platz nicht so. Dafür hat man gar keine Zeit. Es ist schon krass, wie sehr sich dieses Spiel ins Gedächtnis der Schweizer eingebrannt hat. Jeder weiss noch, wo er war, als diese Partie stattfand. Fast wie bei 9/11.
Streller: Also gebibbert habe ich auf der Bank dann auch total. Besonders beim Freistoss kurz vor Schluss aus 18 Metern. Da habe ich fast in die Hosen gemacht.
(94.) Der Ref pfeift ab! Die Schweiz ist an der WM in Deutschland! Und die Schweizer sprinten zum Ausgang, wollen sich nicht bewerfen lassen. Habe ich je mehr gelitten als Reporter? Nein, es war der Weg durch die Hölle.
Gygax: Als wir gesehen haben, dass die Jungs vom Feld losrennen, sind wir gleich hinterher.
Huggel: Wir hätten einfach auf dem Feld bleiben sollen und warten, bis sich alles beruhigt.
Streller: Die Angst war halt, dass die Zuschauer den Platz stürmen. Die Stimmung war ja sehr aufgeheizt. Da, jetzt hat Volkan gerade Köbi angerempelt!
Huggel: Da kam es zu dieser Verkettung. Der türkische Co-Trainer stellte Behrami das Bein, ich verpasste ihm dafür einen Tritt, dann trat Alpay Strelli, und ich zog ihn zurück und kam ins Straucheln, weil ich getreten wurde. So bin ich in den Spielertunnel geflogen.
Streller: Und dort haben alle auf uns eingeprügelt: Sicherheitskräfte, Polizei, Spieler. Wir mussten es irgendwie zur Kabine schaffen.
Huggel: Es war so ein Durcheinander, dass man nicht wusste, wer Freund und wer Feind war.
Streller: Fatih Terim wollte unsere Kabine stürmen! Und immer weitere kamen hinzu.
Huggel: Die Kameraleute wurden daran gehindert, den Gang zu filmen. Und wir haben mit vereinten Kräften die Kabinentür zugehalten. Nach einiger Zeit habe ich bemerkt, dass Marco fehlt, da wollte ich gleich raus, um ihn zu suchen.
Streller: Ich musste zur Dopingkontrolle! Ich hatte es schon einmal erlebt, damals nach dem Sieg mit dem FCB über Manchester, dass ich bei der Kontrolle war und die anderen feiern konnten. Das wollte ich nicht nochmals verpassen. So schnell wie in Istanbul war ich noch nie fertig.
Huggel: Schnell? Du warst eine Stunde weg! Wir blieben schliesslich zweieinhalb Stunden in der Kabine, bis sich alles beruhigt hatte.
Gygax: Die Kabine hat auch ziemlich gelitten.
Huggel: Man stelle sich vor: Erich Burgener, unser entspannter Torhütertrainer, war so sauer, dass er aus Wut die Deckenpaneele runtergeschlagen hat!
Streller: Und Ernst Lämmli, der Nati-Delegierte, hängte sie wieder ein (lacht).
Huggel: Am schlimmsten hatte es Stéphane Grichting getroffen. Er hatte einen Tritt zwischen die Beine bekommen und stand blutend unter der Dusche.
Streller: Das war echt schlimm. Entsprechend betrübt war auch die Stimmung trotz WM-Qualifikation. Selbst als wir wieder im Hotel waren, war die Anspannung noch da.
Gygax: Wir wussten ja nicht, wie weit gewisse Leute gehen würden. Am Tag vor dem Spiel bekamen einige Spieler Morddrohungen per Telefon, die haben direkt ins Hotelzimmer angerufen!
Huggel: Dass die Szenen nach Spielschluss noch Folgen haben könnten, war mir da noch nicht bewusst. Erst als ich gesehen habe, dass im türkischen Fernsehen nur mein Tritt gezeigt wurde, wurde mir das klar.
Streller: Am nächsten Morgen wurden wir dann direkt aufs Rollfeld gefahren, und im Flugzeug hing ein Transparent «Welcome to Heaven». Richtig aufatmen konnte ich erst, als wir in der Luft waren. Und das heisst bei mir einiges, wo ich doch so ungern fliege.
Die Qualifikation für die WM in Deutschland löste Euphorie aus. Beim Spiel gegen Togo in Dortmund wurde die Nordkurve des Westfalenstadions zur «Roten Wand». Als Gruppensieger qualifizierte sich die Schweiz vor Frankreich für die Achtelfinals, wo sie gegen die Ukraine im Elfmeterschiessen ausschied – als erstes Team der WM-Geschichte ohne Gegentor. Beni Huggel erhielt wegen seines Tritts vier Spielsperren und verpasste die WM. Er gehörte aber wie Daniel Gygax und Marco Streller an der EM 2008 zum Kader.
Streller: Wie gut unser Teamgeist war, sah man auch daran, dass bei Zusammenzügen immer eine grosse Gruppe im Hotelzimmer zusammenhockte, zum Plaudern oder zum Jassen. Meistens bei Gygi im Zimmer, das war immer das Raucherzimmer (lacht).
Gygax: Alle kamen immer zu uns zum Rauchen. Da waren oft acht, zehn Leute.
Huggel: Wir kamen uns total schlau vor, weil wir zuvor immer das T-Shirt ausgezogen hatten, damit man es nicht riecht (alle lachen).
Streller: Wir hatten doch einige Raucher im Team.
Huggel: Köbi hat das nicht gestört. Er kam ja sogar mal vorbei, weisst du noch?
Streller: Stimmt, das muss vor der EM 2008 gewesen sein, als er sich spätabends für ein Gläschen Wein zu uns setzte.
Huggel: Da sind wir ja nochmals auf die Türkei getroffen und haben 1:2 verloren. Wir kamen da aber alle nicht zum Einsatz.
Streller: Diese «Revanche» war vor allem medial ein Thema. Wir wussten, dass die Ereignisse von damals nochmals aufgekocht würden. Für uns war das Spiel zwar ein unschönes Erlebnis, aber danach war es für uns abgehakt. Rachegelüste gab es keine und ein grundsätzliches Problem mit der Türkei sowieso nicht. Und jetzt im Sommer, wenn die Schweiz an der EM wieder auf die Türkei trifft, sollte diese Partie damals keine Rolle mehr spielen. Sie ist über 15 Jahre her, keiner der damals Beteiligten ist noch aktiv. Es wird also eine ganz normale EM-Partie werden. Für uns war das Barrage-Spiel damals natürlich prägend, es hat uns als Mannschaft auch noch mehr zusammengeschweisst.
Huggel: Es war auch der Wandel der Schweizer Nati zu einer Mannschaft, die in wichtigen Spielen bestehen kann. Das begann mit dem Heimsieg über Irland in der EM-Quali 2004 und nahm hier seine Fortsetzung.
Streller: Ich habe mich jedes Mal auf die Nati gefreut, das waren immer Highlights.
Huggel: Wir wissen ja auch, warum.
Streller: Ja, auch weil es immer ein bisschen wie ein Ferienlager war. Wir haben nie sonderlich viel trainiert.
Huggel: Gegen Schluss hat mich das ein wenig gestört. Nach der Nati hatte ich immer einen Trainingsrückstand, den ich im Klub aufholen musste.
Gygax: Heute hat die Nati wohl ein dichteres Programm. Ob sie das nach den Auswärtsspielen auch so handhaben wie wir damals? Bei uns war doch der Running Gag: «0.30 Uhr an der Réception.» Und dann standen aber wirklich 14 Spieler bereit, und wir gingen zusammen aus und kamen zusammen zurück.
Streller: Einmal wurden wir sogar mal mit dem Nati-Bus bis vors Kaufleuten gefahren (lachen).
Gygax: Es ist ja nicht so, dass wir fortgeschlichen wären. Köbi wusste es immer, wenn wir ausgingen. Dann hat er jeweils das Glas gehoben und uns eine gute Nacht gewünscht.
Huggel: Unter Hitzfeld bröckelte das etwas. Da hatten die Spieler mehr Angst vor Konsequenzen. Gleichzeitig wurden auch die Handykameras so gut, dass man selbst im Dunkeln die Gesichter erkennen konnte. Ab da konnte man sich weniger erlauben. Man muss schon sagen: Wir haben uns nicht immer ganz professionell verhalten.
Streller: Wären wir besser gewesen, wenn wir nicht in den Ausgang wären? Ich weiss es nicht. Wir haben einfach mehr in den Teamgeist investiert, und der machte uns so stark. Die grossen Nationen waren fussballerisch sicher besser als wir, trotzdem durften wir Achtungserfolge feiern. Heute ist die Nati vom Potenzial her sicher näher dran an der Spitze.
Huggel: Wart ihr eigentlich mal wieder in der Türkei seither?
Streller: Ja, in den Ferien.
Gygax: Ich auch, sogar mehrmals. Istanbul ist eine geile Stadt! Als ich vor drei Jahren da war, wurde ich von einem angesprochen: «Switzerland? Playoff!» Der hat mich tatsächlich erkannt! War aber überhaupt kein Problem, habe ihm sogar eins ausgegeben.
Huggel: Okay, ich glaube, ich warte noch ein bisschen, bis ich wieder dorthin gehe (lachen).
*Mämä Sykora, der Chefredaktor des Fussballmagazins «Zwölf» traf Huggel, Gygax und Streller im April 2021 im Basler Lokal Didi Offensiv. SonntagsBlick veröffentlich eine verkürzte Version des im «Zwölf» erschienenen Interviews.