Herr Gress, wo störe ich Sie im Moment?
Gilbert Gress: «Sie stören nicht. Ich bin zu Hause in Strasbourg und schaue England gegen Wales im Fernseher. Bei den Engländern coacht ja Roy Hodgson, mein ehemaliger Nachfolger als Xamax-Trainer.»
Gehen Sie nicht in die Stadien?
«Nein. Zu Hause kann ich mir pro Tag drei Spiele ansehen. Würde ich in einem Stadion sitzen, nur eines. Klar fehlt vor dem Fernseher die Ambiance. Das ist für mich aber nicht so schlimm, ich war in meiner Karriere als Spieler und Trainer schon in vielen vollen Stadien. Ich weiss, wie es klingt. Zudem sehe ich vor dem TV sofort, ob einer im Abseits steht.»
Sie bleiben nicht aus Angst vor Fan-Ausschreitungen den Stadien fern?
«Nein. Aber die Bilder, die man da zu sehen bekommt, sind katastrophal! Wissen Sie, was ich am wenigsten verstehe?»
Nein, was?
«Dass so viele Hooligans allem Anschein nach derart einfach nach Frankreich einreisen können. Um die Sicherheit zu gewährleisten muss meine Frau ihren Nagellack abgeben, bevor sie ein Flugzeug betritt und Hooligans können einfach einreisen. Dabei weiss man ja schon lange, dass sie kommen.»
Ob in Lens, Paris oder Marseille, überall wimmelt es von Polizisten und Militär...
... «Die Polizisten stehen schon seit Monaten unter riesigem Druck. Über eine Million Überstunden haben sich bereits bei den französischen Polizisten angesammelt, stellen Sie sich das vor! Ein Kollege von mir ist Polizist. Jeden Tag, wenn er nach Hause kommt, muss er sich erst in sein Zimmer zurückziehen, um zu verarbeiten, was er tagsüber erlebt hat. Frankreich ist im Moment eine Katastrophe. Da sind die vielen Streiks, welche die «Casseurs» ausnutzen um alles kaputt zu machen. Das sind Chaoten, die nur zerstören wollen. Dazu kommen die vielen Hooligans. Bei all den Problemen, gehen die die Terroristen fast vergessen. Ich möchte nicht Polizist sein.»
Was neben den starken Sicherheitsvorkehrungen auch auffällt, sind die zahlreichen Bettler rund um die Stadien, der Schmutz...
«Wissen Sie, das ist das Frankreich von heute! Unser Präsident sagt schon lange, dass es aufwärts gehe.»
Glauben Sie ihm nicht?
Gress lacht herzhaft. «Ich will auch nicht der französische Präsident sein. Wissen Sie, von meinen Freunden, mit welchen ich regelmässig Karten spiele, werde ich beneidet, weil ich den Schweizer Pass habe. Sie wollen eigentlich alle am liebsten in die Schweiz.»
Wie stark hat sich Frankreich nach dem Anschlag auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» im Januar 2015 verändert?
«Sehr. Nach dem schrecklichen Attentat auf Charlie Hebdo war die Solidarität in Frankreich riesig. Man absolvierte Friedensmärsche, sang die «Marseillaise» und legte Blumen nieder. Aber mit Blumen bekämpfen wir keine Terroristen. Und ob wir singen, ist denen auch egal. Ich habe das Gefühl, dass erst seit den Terroranschlägen im Bataclan im letzten November richtig durchgegriffen wird. Man hätte dies schon früher tun müssen. Jetzt ist es schwierig.»
Sind Sie in Strasbourg auch vom Terror betroffen?
«Ja, die Anschläge schränken jeden Franzosen ein. An Weihnachten konnte ich nicht in die Kirche. Zum ersten Mal in meinem Leben durfte ich am 25. Dezember nicht ins Münster.»
Weshalb?
«Der Gottesdienst war auf halb Sieben angesetzt. Wie immer standen wir zehn Minuten früher vor der Kirche. Doch man liess uns nicht mehr hinein, weil der «Préfet» (Amtmann) angeordnet hat, dass man eine Viertelstunde vor der Messe in der Kirche sein müsse. Da standen also meine Frau und ich, zusammen mit vielen älteren Menschen, die meisten um die 80 Jahre alt, draussen. Wir kamen uns vor, als wären wir die Terroristen. 100 Meter weiter unten bewachte ein Polizist mit einem Maschinengewehr eine Brücke. Doch er telefonierte die längste Zeit, statt die Leute zu kontrollieren. Das war eine skurrile Situation.»
Zum Glück streiken die Polizisten nicht bei diesen Arbeitsbedingungen. In Frankreich ist Streiken ja total angesagt.
«Würden die Polizisten streiken, bräche ein Desaster aus. Dann wäre Frankreich im Nu K.o. Aber die Polizisten werden nicht streiken. Doch Sie haben Recht: Die Franzosen sind Europameister im Streiken! Jetzt müssen die Fussballer nachziehen.»
Trauen Sie dem Team von Didier Dechamps den Titel zu?
«Bisher hat Frankreich noch nicht überzeugt, zweimal erst kurz vor Ende die Siegtreffer erzielt. Ich habe Teams gesehen, die mich mehr überzeugen. Deutschland, Italien und Spanien. Doch Frankreich hat auch schon sechs Punkte und wird stärker werden. Ich glaube der Heimvorteil kann entscheidend sein. Also ja, ich traue den Franzosen den Titel zu.»
Was sagen Sie zu den Schweizer-Auftritten?
«Die Schweizer haben Klasse-Spieler wie Xhaka, Shaqiri, Rodriguez und Sommer. Sie haben ihre Sache bis jetzt recht gut gemacht. In den K.o.-Spielen ist alles möglich, aber dafür müssen sich einige noch steigern.»
An wen denken Sie?
«Allen voran an Xherdan Shaqiri. Er ist der Star der Mannschaft, von ihm kann noch viel mehr kommen.»
Gibt es auch Teams, die Sie enttäuschen?
«Allen voran die Russen. Waleri Lobanowski, der legendäre Trainer von Dynamo Kiew, würde sich im Grab umdrehen, wenn er die Auftritte der Russen sähe. Katastrophal, wie die spielen.»
Ganz Allgemein Herr Gress, wie ist das fussballerische Niveau an dieser EM?
«In etwa so wie an jedem grossen Turnier. Die ersten Gruppenspiele sind meistens enttäuschend, da die Erwartungen so gross sind. Zudem hat man mit der Aufstockung auf 24 Teams das Niveau auch nicht angehoben. Aber das sind die üblichen Wahlversprechen der Präsidenten. Bald spielen wohl 80 Mannschaften an einer WM», lacht Gress.
Sie denken, das Niveau steigt ab den dritten Vorrundenspielen?
«Ja, es wird besser. Ob die ganz kleinen Teams jedoch weiter so rennen und kämpfen werden, bezweifle ich. Wahrscheinlich geht den Isländern und den Albanern mal der Schnauf aus.»
Frankreich gegen die Schweiz. Wer gewinnt?
«Ich sage 2:1 für Frankreich. Aber wissen Sie, ich bin ein schlechter Tipper. Sage ich 2:1 für Frankreich, ist die Chance gross, dass die Schweiz gewinnt. Und das wäre mir recht. Denn ich fühle mich der Schweiz um einiges näher als Frankreich.»