Im grössten Moment der Fussball-Geschichte seines Landes ist Chwitscha Kwarazchelia (23) nur ein paar Sekunden zum Jubeln zumute. Statt seinen georgischen Teamkollegen nach dem sensationellen Achtelfinal-Einzug in die Arme zu fallen, marschiert Georgiens grösster Star zielstrebig auf einen Portugiesen zu.
Doch der Flügelspieler hat nach dem historischen 2:0-Sieg nicht irgendeinen Gegenspieler im Visier, sondern den fünffachen Weltfussballer Cristiano Ronaldo. Die beiden klatschen ab und wechseln ein paar Worte. Klar hat es Kwarazchelia dabei vor allem auf das Trikot des Portugal-Captains abgesehen. Doch hinter dem kurzen Moment steckt viel mehr. Denn ausgerechnet Ronaldo steht am Ursprung des fast schon kitschigen EM-Märchens.
Als Kinder Ronaldo-Fans, heute Gegner
Dieses nimmt 2013 seinen Anfang, als Dinamo Tiflis seine neue Fussball-Akademie eröffnet. Bei deren Einweihung ist neben Andrej Schewtschenko (47) und Kachaber Kaladse (46) auch Ronaldo zu Gast. Dabei posiert der damalige Real-Superstar mit zahlreichen Jugendspielern des georgischen Rekordmeisters für Fotos.
Einer der Jungen, der sich um Ronaldo schart, ist der damals zwölfjährige Kwarazchelia. Elf Jahre später wird er im letzten EM-Gruppenspiel gegen Portugal nach 91 Sekunden zum 1:0 für Georgien treffen. Zwei andere sind Giorgi Kotschoraschwili (24) und Giorgi Tschakwetadse (24), die beim historischen Sieg ebenfalls in der georgischen Startelf stehen werden.
Insgesamt elf Spieler im georgischen EM-Kader stammen aus der Nachwuchs-Akademie von Dinamo Tiflis. Der häufig etwas inflationär verwendete Begriff einer goldenen Generation trifft in diesem Fall mehr als zu. Zehn Spieler im Team sind zwischen 23 und 25 Jahre alt.
«Kvaradona» ist der grösste Star
Ins Rampenlicht haben sich einige Georgier aber nicht erst im Verlaufe dieser EM gespielt. Kwarazchelia führte Napoli im vergangenen Sommer zum ersten Meistertitel seit 33 Jahren und gehört bereits jetzt zu den grössten Spielern, die das Land jemals hervorgebracht hat. «Kwaradona» nennen sie ihn am Fusse des Vesus.
Giorgi Mamardaschwili (23), der neben Italiens Gianluigi Donnarumma wohl beste Goalie der EM-Vorrunde, steht bereits seit drei Jahren im Tor des FC Valencia. Der mit einem geschätzten Marktwert von 35 Millionen Franken fünftwertvollste Keeper der Welt. Immer wieder wird er als Nachfolger von Manuel Neuer bei Bayern München gehandelt.
Iran-Profi debütiert mit 33 Jahren
Und dann ist da auch noch Georges Mikautadze (23), der mit drei Treffern der bisher beste Torschütze des gesamten Turniers ist. Der Stürmer des FC Metz hat in der Ligue 1 allein in diesem Frühling elf Tore erzielt. Nun dürfte er demnächst zu Topklub Monaco wechseln. Kwarazchelia, Mamardaschwili und Mikautadze – es sind die mit Abstand grössten Namen der neuen Generation aus der Tifliser Jugendakademie. Aber sie sind nur ein Teil des georgischen EM-Märchens.
Einer der unbekannten Helden ist Giorgi Gwelessiani (33). Der Verteidiger verdient seit sieben Jahren im Iran sein Geld und debütierte erst Anfang Juni für die georgische Nationalmannschaft. Oder Captain Guram Kaschia (36), der mit 116 Einsätzen Rekordspieler Georgiens ist. Er kickt in der Slowakei für Slovan Bratislava. Beide gehören gemeinsam mit Ersatzgoalie Giorgi Loria (38) zu den letzten Spielern der Nationalmannschaft, die noch in der Sowjetunion zur Welt gekommen sind.
Georgien-Star unterstützt Proteste
Als eine der ersten Sowjetrepubliken wandte sich Georgien 1991 von der UdSSR ab. Inzwischen ist das 34 Jahre her. Doch ausgerechnet jetzt, wo die eigene Nationalmannschaft in Europa für Furore sorgt, scheint sich das Land politisch wieder Russland zuzudrehen. Seit Wochen demonstrieren in Tiflis Zehntausende Menschen gegen die Regierungspartei Georgischer Traum und die Einführung des umstrittenen «russischen Gesetzes», das ausländischen Einfluss auf die Zivilgesellschaft beschränken soll.
Dieses hat nun dazu geführt, dass sich die Verhandlungen über einen möglichen EU-Beitritt vorerst erledigt haben. Ein Rückschlag nicht nur für einen Grossteil der georgischen Bevölkerung, sondern auch viele Nationalspieler. «Georgiens Weg für nach Europa», postete Kwarazchelia im April auf Facebook.
Zwar noch nicht politisch, dafür aber sportlich ist das kleine Land dort bereits angelangt. Nun soll das EM-Märchen auch nach dem Achtelfinal weitergehen. Georgien träumt vom nächsten Fussballwunder gegen Topfavorit Spanien. Dass sie sich ihre Träume erfüllen können, hat diese georgische Mannschaft bereits bewiesen. Der Blick auf ein elf Jahre altes Foto reicht dafür aus.