Normalerweise ist das Wimbledon-Village das Mekka der Tennis-Liebhaber. Hier regiert der gelbe Filzball. Wer vom Rasen spricht, meint nicht den Fussball, sondern das gepflegte Grün auf der legendären Anlage an der Church Road. Wimbledon lebt und atmet Tennis. Doch wenn England an der EM kickt, kriechen selbst hier die Fussballfans aus allen Ecken des Stadtviertels im Südwesten Londons. Und sie fiebern nicht weniger mit als anderswo im Land.
Als England das emotionale Duell mit der Slowakei nach 0:1-Rückstand noch kehrt und damit den Viertelfinal-Kracher gegen die Schweizer Nati klarmacht, brechen im Village alle Dämme. Ein Bellingham-Fallrückzieher, ein wuchtiger Kane-Kopfball und die Welt in den lokalen Pubs ist wieder in Ordnung. Im «The Old Frizzle» haben sich besonders viele Fans versammelt. «Was spielten wir wieder für einen Müll zusammen», sagt England-Anhänger Luke nach Spielschluss draussen vor der Tür, «aber immerhin sind wir durch». Dann holt er zur fundierten taktischen Analyse aus, erklärt gestenreich, was er von der Aufstellung von Coach Gareth Southgate hält – und kommt letztlich zum Schluss: «Du kannst Harry Kane und Phil Foden nicht gleichzeitig aufstellen, das funktioniert einfach nicht.»
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Auch Harry und Ed stimmen sofort zu, sagen unisono: «Es kann für uns nur besser werden.» Und Jacob im roten «Three Lions»-Dress ist der Meinung: «Wir haben halt individuelle Klasse – Bellingham und Kane sind enorm stark. Aber als Team? Da sind wir fürchterlich. Ich sage immer noch: Southgate muss weg!»
«Wenn wir rausfliegen, bin ich glücklich für die Schweiz»
In den Bars von Wimbledon geht man nicht zimperlich mit der eigenen Nationalmannschaft um. «Was für ein Scheiss-Freistoss!», schreit einer im Pub «Prince of Wales». Auch weitere, nicht unbedingt jugendfreie Ausdrücke fallen. Selbst in der berühmten (und ruhigeren) Tennis-Bar «Dog & Fox» ist für einmal Fussball Trumpf – und auch hier verwerfen die Gäste die Hände. Doch bei allem zwischenzeitlichen Frust wegen des 0:1-Rückstands: Die Unterstützung für England ist ungebrochen. Bis zur letzten Minute der regulären Spielzeit, bis zum Bellingham-Tor, gibts Anfeuerungsrufe im Minutentakt. Als der Schiedsrichter endlich abpfeift, stimmen einige sofort «Football is coming home» an. Gestandene Männer liegen sich in den Armen, ganz Wimbledon scheint erleichtert.
Doch das Aufatmen dauert bei manchen nicht allzu lange. Von Blick zum Schweiz-Spiel am nächsten Samstag befragt, meint Luke: «Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri in einem Team – das ist ein echtes Problem für uns.» Wobei hier noch ein Fragezeichen dahintergestellt werden muss, ob Shaqiri tatsächlich wieder mal eine Chance von Nati-Coach Murat Yakin erhält… Aber anyway. Auch Darren meint nach seinem Pub-Besuch: «Wir haben grosse Angst vor der Schweiz – wir hatten bis jetzt nur Glück. Ich glaube, wir werden gegen das technisch starke Mittelfeld der Schweizer viel Mühe bekunden. Wenn wir rausfliegen gegen euch, dann bin ich glücklich für die Schweiz.»
«Wir wissen, dass ihr Italien zerstört habt»
Jacob fügt an: «Bei allem Respekt, auf dem Papier müssten wir diesen Viertelfinal eigentlich gewinnen. Doch leider spielen wir momentan schrecklich. Wir wissen, dass ihr Italien zerstört habt (2:0, d. Red.). Und dass Xhaka Arsenal verlassen hat, war wohl die beste Entscheidung, die er treffen konnte. Seht nur, was er nun mit Leverkusen erreicht hat.» Und dennoch: Der junge Mann bleibt seinem Land treu: «Wir werden am Samstag trotz allem gewinnen.»
Die (vielleicht ein ganz wenig angetrunkenen) Freunde Alan und Woodrow bilanzieren den englischen Drama-Abend derweil mit der nötigen Prise Humor. Nicht ohne Ironie meint Letzterer: «Es war ein fantastisches Spiel, wir hätten gar nichts besser machen können. Ein grosser Sieg für uns, ein grosser Sieg für die Welt!» Dann fügt er augenzwinkernd an: «Ihr habt doch das Kreuz in der Flagge. Das ist schon mal ein grosses Plus für die Schweiz.»
Und schliesslich stimmt Alan, völlig in Ekstase, sogar noch einen Granit-Xhaka-Song aus Arsenal-Zeiten an («Granit Xhaka, Granit Xhaka, score a goal, score a goal, win the game for Arsenal, win the game for Arsenal, score a goal!»). Er meint ganz Gentleman-like: «Möge am Samstag der Bessere gewinnen.»