Die Nummer ist mir unbekannt. Frankreich – ein Handy. Verabredet sind wir um die Mittagszeit. Es ist 12.16 Uhr, als mein Handy läutet. «Guten Tag. Ich bin der Polizist, der für die Sicherheit von Coco zuständig ist. Sie haben sich mit ihr verabredet. Richtig? Sind sie alleine oder in Begleitung? Alleine? Gut. Kennen Sie dieses Restaurant in der Nähe ihres Standortes? Gehen Sie dorthin. Dann entscheiden wir, wohin wir gehen. Sie kommt um 13 Uhr aus der Redaktion. Seien Sie um 13.15 Uhr dort. Bis später!»
Es sind nicht die Art Telefonate, die Alltag sind, wenn man sich mit jemandem zum Mittagessen verabredet hat. Doch im Leben von Coco – Corinne Rey, wie sie mit bürgerlichem Namen heisst – ist nichts mehr normal seit jenem verhängnisvollen 7. Januar 2015, als die Terrorwelle gegen Westeuropa in Paris gewissermassen eingeläutet wird.
Als Al-Qaida-Terroristen die Redaktion der Satire-Zeitung Charlie Hebdo stürmen, nachdem ihnen Coco den Zugangscode zur Redaktion mit einem Maschinengewehr an der Brust verraten hat. Sie erschiessen zehn Mitarbeiter. Coco, die hinter einem Pult Schutz sucht, kommt mit dem Leben davon.
Kurz vor dreizehn Uhr meldet sich Coco von ihrem Handy aus. «Komm zu einem anderen Restaurant. Ich geb Dir die Adresse. Aber warte vor dem Haus. Wir gehen dann anderswohin.»
Ich tue, wie mir aufgetragen. Bis drei Personen um die Ecke kommen. Coco. Zierlich, kleiner als ich gedacht hatte, wilde schwarze Locken, schwarze Lederjacke, Brille im Ray-Ban-Wayfarer-Stil. «Salut», sagt sie lachend. «Comment ça va?» Der eine Begleiter stellt sich als derjenige Polizist vor, der mich angerufen hatte. «Und ich bin auch Personenschützer», sagt der andere.
«Ich habe mich an den Polizeischutz gewöhnt»
«Es sind immer zwei Polzisten zu meinem Schutz abgestellt», erklärt Coco. Bei Laurent Sourisseau alias Riss, einem der beiden Leiter der Charlie-Hebdo-Redaktion, der die Anschläge mit einer Kugel in der Schulter überlebte, weil er sich tot stellte, sind es gar deren sechs! «Ich habe mich an sie gewöhnt, kein Problem», erzählt die Cartoonistin, als wir im Restaurant «La Mêlé Casse» im Quartier La Butte Aux Cailles in Paris Südens Platz nehmen. Coco organisiert alles. «Zwei Tische für je zwei Personen bitte», sagt sie. Sie will lieber drinnen essen.
Der grösste Aufwand wird aber betrieben, um die Redaktion der Zeitung zu sichern, die mit ihren Karikaturen kein Blatt vor dem Mund nimmt. «Sie ist irgendwo nicht allzu weit von hier», sagt Coco. Womit sie eigentlich gar nichts sagt bei einem dichtbesiedelten Grossraum wie jenem von Paris, in welchem über zwölf Millionen Menschen leben. «Wo genau sich unsere neue Redaktion befindet, ist geheim! Wir fühlen uns dort wohl – und sicher. Es ist kein Bunker, hat viel Licht und ist viel geräumiger als unsere alten Büros. Gut, wir sind eine kleine Redaktion. Rund fünfzig Personen arbeiten dort.»
«Xhaka mit seinem Charakterkopf ist mir geblieben»
Coco selbst kommt nicht aus Paris, sondern ist fast Schweizerin. «Ich komme aus Annemasse», erzählt sie. «Das liegt gleich um die Ecke von Genf, wo mein Vater gearbeitet hat. Nach dem Studium bin ich nach Paris gezogen, weil ich die Möglichkeit erhielt, bei Charlie Hebdo ein Praktikum zu absolvieren. Es hat mir auf Anhieb gefallen. Grossartige Leute, gleichzeitig etwas ausgeflippt. Das passt sehr gut zu mir. Sie sagten mir gleich: Du kannst kommen, wenn du willst.» Sie wollte. Zuerst in einem Teilpensum. Seit den Attentaten ist sie zu hundert Prozent angestellt.
In Paris ist sie auch Mutter geworden, vor vier Jahren. Hier lebt sie nun, in diesem speziellen Quartier, wo wir uns verabredet haben. Hier zeichnet sie. Auch für SonntagsBlick, die Schweizer Fussballnati. Ist sie zu einem Insider geworden? «Fussballer hatte ich zuvor noch nie gezeichnet. Das war durchaus sympathisch. Und einige sind mir in Erinnerung geblieben. Behrami etwa mit seiner komischen Frisur. Shaqiri mit seinem Fallrückziehertor und seinen dicken Waden, Xhaka mit seinem zerrissenen Shirt und dem Charakterkopf.»
Lieber Island als Frankreich
Mit Fussball hat sie sonst nichts am Hut. «Und wenn ich mir ein Spiel anschaue, dann bin ich für die Aussenseiter, für die Kleinen. Die Isländer waren meine Lieblinge. Die Franzosen sind mir da zu chauvinistisch. Wenn sie gewinnen, sind sie die Grössten. Wenn sie verlieren, sind sie die grössten Deppen.»
Aber Fussballer zu zeichnen sei nicht radikal anders als Politiker oder so. «Ich denke immer in Zeichnungen, aber immer mit einem kritischen Ansatz. Und den gibts im Fussball wie anderswo. Affären und Frisuren von Spielern, die Terrorgefahr, die Hooligans, die Fans.»
«Attentäter haben verloren»
Coco schaut auf die Uhr. Fast zwei Stunden sind vergangen. «Ich muss mich aufmachen. Ich habe auf Arte regelmässig eine Sendung, in welcher ich am TV zeichne. Schau mal rein.»
Dann kommt sie nochmals auf das Attentat zu sprechen. Weißt Du, was mich am Ganzen freut? Gut, Freude ist vielleicht der falsche Ausdruck. Dass wir weitergemacht haben. Dass wir die Ärmel hochgekrempelt haben. Auch um zu vergessen. Und damit die Typen nicht gewinnen. Und nun? Nun haben sie auf der ganzen Linie verloren! Wir haben eine so hohe Auflage wie noch nie. Wir sind so bekannt wie noch nie. Und das wohl auf ewig!»