Blick auf den Fussball im Orban-Land
Ungarn träumt wieder von grossen Zeiten

Nach langer Zeit im Niemandsland ist die einstige Fussball-Weltmacht Ungarn wieder da. Und der Schweizer Quentin Maceiras (28) mittendrin.
Publiziert: 13.06.2024 um 12:56 Uhr
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Aktualisiert: 13.06.2024 um 17:10 Uhr
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Die Ferencvaros-Spieler jubeln nach dem Sieg im letzten Saisonspiel, dem Derby gegen Ujpest. Das YB von Ungarn wurde zum sechsten Mal in Folge ungarischer Meister.
Foto: Sven Thomann

Letzter Spieltag in Ungarns höchster Fussballliga. Im schmucken Stadion in Felcsut, einem Dorf rund 45 Kilometer westlich von Budapest, stehen die Spieler vom Puskas Akademia im Kreis. Alle schauen auf ein Handy, warten auf den Schlusspfiff beim Spiel Fehervar gegen DVTK. Dann explodiert die pure Freude. Die Puskas-Spieler tanzen, singen, umarmen sich. 2181 Zuschauer freuen sich mit.

Nein, Puskas ist nicht Meister geworden. Der Klub von Gründer Viktor Orban hat im letzten Moment noch Fehervar von Platz 3 verdrängt, das Team aus Szekesfehervar, Orbans Geburtsstadt, in der früher die ungarischen Könige gekrönt wurden. In der Garderobe wird weitergefeiert, auch der Ministerpräsident ist da, zusammen mit seinem Jugendfreund Lorinc Meszaros, dem Boss von Puskas Akademia, ein 57-jähriger Milliardär, einst einfacher Gasinstallateur in Geldnöten, stieg er sagenhaft zum reichsten Mann Ungarns auf. Orban und sein Kumpel Meszaros gratulieren den Spielern zur Saison, zu Platz drei in der Meisterschaft hinter Paks und Serienmeister Ferencvaros Budapest. Sie sind stolz.

In Felcsut ist Orban aufgewachsen, das Dorf hat 1800 Einwohner, ist gepflegt, sauber und reich. Prachtstück ist das Fussballareal. 2005 wurde die Akademie aufgebaut. Heute stehen da zehn Fussballplätze, ein Hotel, ein Fitnessstudio, ein Restaurant für die Spieler und seit 2016 eines der schönsten Stadien der Welt: die Pancho Arena. Pancho war der Übernahme, den die Spanier Ungarns Fussballidol Ferenc Puskas gaben, als er bei Real spielte.

Entworfen und gebaut von berühmten ungarischen Architekten sieht das Stadion aus wie eine Kathedrale oder ein Museum, man kann es sich aussuchen. Die Schweiz spielte das EM-Quali-Spiel gegen Israel. Der Luxustempel bietet knapp 4000 Menschen Platz, mehr als doppelt so viel, wie Felcsut Einwohner hat. Man könnte es auch Grössenwahn nennen. Zum Spiel, das Granit Xhaka mit 119 Länderspielen zum alleinigen Rekordhalter machte, kamen im November 2034 Zuschauer.

Vetterliwirtschaft im grossen Stil

Wie dieses Fussballreich finanziert wurde, darüber wird viel geschwiegen und viel spekuliert. Auf unserer Reise durch Ungarn treffen wir auf Patrik, er ist 33, Physiotherapeut, arbeitete drei Jahre in der Nähe von Bern. Die Liebe hat ihn zurück nach Ungarn gebracht. Er ist nicht gut zu sprechen auf Orban: «Er beklaut uns, verteilt Geld, das eigentlich uns allen zusteht, an seine Kumpels. Denen vergibt er lukrative Bauaufträge und erlässt ihnen Steuern. Für die Jungen gibt es in diesem Land kaum Perspektiven. Diejenigen, die gehen können, die gehen auch.» 

Seit 2010 wurden in Ungarn für den Sport circa fünf Millionen Franken ausgegeben. Viele neue Stadien wurden gebaut, auf höchstem Standard und in der Regel viel zu gross für die Zuschauer, die sich tatsächlich einfinden. Der Vorwurf lautet: Freunde und Vertraute Orbans bereichern sich dank Vetterliwirtschaft im grossen Stil. «Too busy», heisst es als Antwort auf unsere schriftliche Anfrage bei der Puskas Akademia, «zu beschäftigt». Wir werden nicht eingelassen in die Kathedrale des Fussballs in Felcsut, bekommen keine Antworten. Und als wir es vor Ort einfach direkt versuchen, lassen uns muskelbepackte Schrankenwärter abblitzen.

In Budapest treffen wir auf Quentin Maceiras. Er ist ein Enkel Schweizer Einwanderer aus dem nordspanischen Galizien. Der 28-Jährige ist im Wallis geboren, aufgewachsen und Fussballspieler geworden. Für den FC Sion machte der Verteidiger zwischen 2016 und 2020 insgesamt 84 Spiele, dann wechselte er zu YB, wurde mit den Bernern Cupsieger und zweimal Meister. Seit Sommer 2023 spielt er in Ungarn für Puskas Akademia.

Mit Politik hat Maceiras nichts am Hut. Als er bei YB als Rechtsverteidiger nicht mehr erste Wahl war, suchte sein Spielerberater nach Lösungen. Puskas Akademia war interessiert. «Ich bin mit meiner Freundin nach Budapest geflogen. Wir haben uns die Stadt und in Felcsut die Infrastruktur des Klubs angesehen. Beides hat uns gefallen und beeindruckt. Ich bin offen für Abenteuer, für neue Kulturen, neue Menschen und Herausforderungen. Ich habe das dann mit der Familie diskutiert und dann zugestimmt und bereue den Wechsel nicht. Im Gegenteil.»

Drei Tage vor Meisterschaftsstart ist er zum Team gestossen. Er wohnt in Budapest, pendelt fast täglich mit dem Auto nach Felcsut und hat sich trotz der sprachlichen Hindernisse schnell integriert. Maceiras Saisonbilanz: 26 Spiele, drei Torassists, sieben Gelbe Karten. Man ist mit ihm zufrieden. Sein Vertrag läuft noch eine weitere Saison mit Option auf Verlängerung. Der Walliser kann sich vorstellen, länger zu bleiben. Inzwischen sind sie zu dritt. Vor knapp acht Monaten kam Söhnchen Santiago zur Welt. Ein kleines Familienglück am Ufer der Donau.

«Ferencvaros-Stürmer Varga trifft immer»

Finanziell ist es in Ungarn sogar ein bisschen besser für Maceiras als bei YB. Und Platz 3 in der Saisonrangliste gibt mehr Bonus als Platz 4. War darum der Jubel über den dritten Platz nach dem letzten Spiel so gross? «Ich habe so was ehrlich gesagt auch noch nie erlebt. Aber es ging nicht ums Geld vielmehr um Ehre. Wir wollten diesen dritten Platz und haben ihn zusammen erreicht. Darauf sind wir stolz.»

Zsolt Nagy hat zu diesem Erfolg elf Tore und fünf Assists beigetragen. Er ist Nationalspieler und eigentlich linker Aussenverteidiger. Der Trainer aber stellte ihn diese Saison am linken Flügel auf. «Das war ein Volltreffer, er hat eine richtig gute Saison gespielt», lobt Maceiras seinen Mitspieler.

Neben den grossen Stars, die im Ausland spielen, wie Peter Gulacsi, Willi Orban (beide Leipzig), Dominik Szoboszlai (Liverpool), Milos Kerkez (Bournemouth), Roland Sallai (SC Freiburg) oder auch Bendeguz Bolla (Servette) haben sich aus der heimischen Liga neben Nagy vor allem zwei Ferencvaros-Spieler in den Fokus gespielt. Goalie Denes Dibusz macht Gulasci Druck, und Stürmer Barnabas Varga ist richtiggehend explodiert. Maceiras, der gegen ihn gespielt hat, sagt: «Er ist sehr gefährlich vor dem Tor, hat einen guten Riecher, ist kopfballstark und trifft einfach immer.»

Neuneinhalb Jahre spielte Varga in Österreich, wechselte 2020 nach Ungarn in die zweite Liga, dann startete er quasi aus dem Nichts durch, wurde letzte Saison im Team von Paks Ungarns Torschützenkönig und dieses Jahr auch im Ferencvaros-Dress. 

Quentin Maceiras, Ungarn und die Schweiz treffen am 15. Juni aufeinander. Sie kennen beide Teams. Wer gewinnt?
Es ist das erste Spiel, sehr wichtig für beide. Ich sehe die Teams auf Augenhöhe.

Ferencvaros hat zwar den Cupfinal gegen Paks verloren, ist aber zum sechsten Mal hintereinander Meister geworden. Warum diese Dominanz?
Ferencvaros ist vergleichbar mit YB in der Schweiz: Topinfrastruktur, viel Geld, hohe Ambitionen auch international. Dass der Cupfinal verloren ging, war eine grosse Überraschung. 

Welche Liga ist stärker – die Super League oder die ungarische NB I?
Es gibt ein paar sehr starke Teams in Ungarn, dazu zähle ich auch Puskas Akademia. Betrachtet man aber die ganze Liga, ist die Super League ausgeglichener, qualitativ besser, das Niveau höher.

Welche Unterschiede sehen Sie bei den Nationalmannschaften?
In der Schweiz wird viel Wert auf Ballsicherheit, Technik und Spielaufbau gelegt. In Ungarn ist Kompaktheit wichtig. Die Nationalmannschaft wird an der EM wohl mit einem Fünferblock hinten absichern und auf Konter lauern. Ganz wichtig in Ungarns Spiel sind Freistösse und Corner. Hinten zumachen und vorne ein Tor durch einen Standard erzielen, das ist vereinfacht gesagt das Spielkonzept. Für die Schweiz wird es bestimmt schwierig, Räume in der Offensive zu finden. Geduld ist gefragt.

Schauen Sie sich die Spiele am TV an?
Ja klar, gemütlich mit meiner Familie zu Hause. Und ich hoffe, dass mein Freund Vincent Sierro möglichst viel Einsatzeit bekommen wird. Ich drücke ihm die Daumen.

Auch wenn in der heimischen Liga die Stadien oft halb leer bleiben, ist Ungarn ein fussballverrücktes Land. «Vor allem die Nationalmannschaft, Symbol für Stolz und Stärke, kann viele Emotionen auslösen», sagt Zoltan Halas, Senior Writer bei der Zeitung «Blikk» in Budapest. Er vermutet, dass viele Fans ohne Tickets nach Deutschland reisen und in den Strassen für Stimmung sorgen werden. «Dass Ungarn nun zum dritten Mal in Folge an einer EM-Endrunde dabei ist, zeigt die Entwicklung, die gemacht wurde.» Das sei ein Resultat von Viktor Orbans Investitionen, aber auch von den Erfahrungen, welche die Topspieler im Ausland in den letzten Jahren machen konnten.

Zudem spiele der italienische Trainer eine massgebliche Rolle. «Marco Rossi macht grossartige Arbeit. Er weiss genau, wie er die Spieler nehmen muss und fördert die familiäre Atmosphäre im Team. Das ist eine grosse Stärke der Nationalmannschaft. Jeder weiss, was er tun muss, jeder ist wichtig, und alle halten zusammen.»

Rossi, früher selber Spieler (u.a. Brescia, Sampdoria, Eintracht Frankfurt), ging 2012 als Klubtrainer nach Ungarn (Honved Budapest, DAC Dunajska Streda), 2018 übernahm er die Nationalmannschaft, schaffte die Quali für die EM-Endrunde 2021, wo nach der Gruppenphase Schluss war. Was bis heute folgte, kann sich als Statistik sehen lassen: 16 Siege, neun Unentschieden, acht Niederlagen. Darunter 2022 die historischen Auswärtserfolge in der Nations League gegen England (4:0) und Deutschland (2:0). In Ungarn ist niemand zu finden, der etwas Schlechtes über Rossi sagen kann. Inzwischen hat der Italiener auch den ungarischen Pass. «Er ist ein Schwerarbeiter», sagt Halas. «Bei den Spielern ist er sehr beliebt.»

Als Ungarn im Fussball eine Weltmacht war

In Ungarn träumen sie von alten, grossen Zeiten. Unvergessen, wie man zweimal im WM-Final stand (1938, 1954) und dreimal Olympia-Gold gewann (1952, 1964, 1968). Im Büro von Gabor Kiraly, der Torhüterlegende, der 2019 seine beeindruckende Karriere 43-jährig beendete und heute eine Fussball-Akademie in seiner Geburtsstadt Szombathely nahe der österreichischen Grenze führt, hängen die Stars des «Goldenen Teams» von damals in goldigen Rahmen an der Wand. Puskas, Bozsik, Hidegkuti, Kocsis, Grosics und wie sie alle hiessen, die vielleicht beste Fussballmannschaft aller Zeiten. Kiraly sagt: «Sie hängen hier nicht ohne Grund. Sie sollen die Menschen inspirieren und motivieren. Diese Spieler haben gezeigt, was im Leben alles möglich ist.»

Einen schönen Traum hat auch Quentin Maceiras. «Irgendwann möchte ich für Deportivo spielen, in Galizien, dem Land meiner Vorfahren.» Würde das klappen, könnte er wieder in einem tollen Stadion auflaufen. Das Estadio Riazor liegt wunderschön am Sandstrand des Atlantiks, der die Innenstadt von La Coruña abrundet. 

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