Noch ist es ruhig im Circolo. Zwei Stunden vor Spielbeginn laufen im Klublokal der US Oltenese die letzten Vorbereitungen. Die Dekoration wird aufgehängt, das Essen vorbereitet. Man will schliesslich rechtzeitig bereit sein für das Spiel des Jahres, den EM-Achtelfinal zwischen der Schweiz und Italien.
Rund 150 Meter vom Circolo entfernt – auf der anderen Seite des Flusses Dünnern – ist schon deutlich mehr los. Dort findet auf dem Oltner Schützi-Platz ein grosses Public Viewing statt. Bei den Schweizer Spielen war das Zelt bislang stets ausverkauft. Über 1000 Menschen tranken, assen und feierten hier. Genau so soll es auch heute Abend sein, denn der Grossteil der hier anwesenden Fussballfans wird der Nati die Daumen drücken.
Im Circolo ist das natürlich anders. Forza Italia. 1968 wurde die Unione Sportiva Oltenese von Einwanderern aus Süditalien gegründet. Die Vereinsfarben? Schwarz-rot, weil die damaligen Gründerväter Fans der AC Milan waren. In den letzten Monaten hatte der Klub wenig zu feiern. Vor kurzem stieg die erste Mannschaft von der 4. in die 5. Liga ab.
Heute Abend ist all das aber kein Thema. Heute Abend soll Italien die Schweiz schlagen und in den Viertelfinal einziehen. Das ist auch der Plan von Orlando Di Mauro, früher Spieler der USO und seit zwei Jahren deren Präsident. Sein Vater reiste in den 60ern als Arbeiter in die Schweiz. Orlando kam zwar in der Schweiz zur Welt, besitzt aber nur den italienischen Pass und fiebert heute mit den Azzurri mit.
Die italienische Hymne – ein Gänsehautmoment im Circolo
Die Lebensgeschichte der Di Mauros ist eine typische. In den 50ern und 60ern brachen unzählige italienische Gastarbeiter in die Schweiz auf. Sie waren billige Arbeitskräfte, willkommen waren sie aber nicht wirklich, Stichwort «Tschingge». «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen», sagte damals Schriftsteller Max Frisch. Das Ganze gipfelte 1970 in der Überfremdungsinitiative, auch als Schwarzenbach-Initiative bekannt, die verlangte, dass der Ausländeranteil in der Schweiz bei maximal 10 Prozent liegen solle. Doch das Stimmvolk schickte die Vorlage mit einem Nein-Anteil von 54 Prozent bachab.
Im Gepäck hatten die Gastarbeiter auch ihre Leidenschaft für den Calcio und gründeten nach ihrer Ankunft in der Schweiz zahlreiche Fussballklubs. Noch heute gibt es hierzulande rund 35 solcher Vereine, von der AS Calcio Kreuzlingen bis zur AC Virtus Liestal, von der SC Italia Oerlikon bis zum FC Juventus Wettingen.
Oder eben die US Oltenese, in der mittlerweile aber nicht mehr nur Kicker mit italienischen Wurzeln spielen. Um 17.56 Uhr bebt an diesem Samstagabend das Circolo ein erstes Mal, die «Fratelli d’Italia», die italienische Nationalhymne, wird inbrünstig mitgesungen. Ein Gänsehautmoment.
Man merkt sofort: Das Circolo ist mehr als nur ein Klublokal. Es ist für viele Heimat. Hier laufen normalerweise die Spiele von Juventus Turin, und nachmittags vergnügen sich die Pensionierten mit italienischen Kartenspielen. Und natürlich darf an so einem Abend wie heute auch italienisches Essen nicht fehlen. Es gibt Pizza al taglio und Arancini Siciliani (frittierte Reiskugeln).
Apropos Essen: Das Motto im Festzelt auf der Schützi lautet «Food&Ball». Auch dort wird ordentlich gefuttert, kräftig mitgefiebert – und gelitten. Chance um Chance vergeben die Schweizer in der ersten Halbzeit. Doch um 18.38 Uhr gibt es kein Halten mehr. 1:0 für die Schweiz. Die Ersten stehen auf den Festbänken.
«So haben sie an der EM nichts mehr verloren»
Zehn Minuten später wird im Circolo heftig diskutiert. Halbzeitpause. Auch wer der italienischen Sprache nicht mächtig sein sollte, versteht trotzdem, dass man mit der Leistung alles andere als zufrieden ist. Doch Manuele bleibt optimistisch. Der Zwölfjährige glaubt noch immer an einen 3:1-Sieg.
Kaum sagt er das, fällt das 2:0 für die Schweiz. Nicht nur der Kommentator von Rai Uno wird ruhiger, sondern auch die Gäste im Circolo.
Unten im grossen Public Viewing ist die Stimmung naturgemäss komplett anders. Längst kommt niemand mehr rein. Der Veranstalter meldet mit 1200 Zuschauern ausverkauft. Immer wieder wird «Wer nöd gumped, isch ken Schwiizer» angestimmt. Gegen 19.50 Uhr gibt es dann endgültig kein Halten mehr. Die Schweiz gewinnt 2:0 und steht im Viertelfinal. Die Oltner feiern zu den Klängen von Baschi («Bring en hei») und den Toten Hosen («Tage wie diese»). Für sie ist nach dem Sieg im Achtelfinal die Reise der Nati noch lange nicht zu Ende. «Jetzt wollen wir in den Final», sagen sie und singen «Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin».
Im Circolo ist es zu diesem Zeitpunkt schon leer und dementsprechend ruhig. US-Oltenese-Präsident Orlando Di Mauro nimmt die Niederlage sportlich: «Mit so einer Leistung sind die Italiener verdient ausgeschieden. So haben sie an dieser EM nichts mehr verloren. Gratulation an die Schweizer Nati.»