Zu Besuch bei der Nati-Legende
Das neue Leben von Lichtsteiner in der Fussball-Provinz

Step by Step arbeitet Stephan Lichtsteiner (41) an seiner Trainer-Karriere. Für den Ex-Captain der Nationalmannschaft ist Wettswil-Bonstetten ein Glücksfall und kein Schritt zurück. Blick hat den siebenfachen Serie-A-Champion beim ambitionierten Dorfverein besucht.
Foto: Toto Marti
Ex-Nati-Star Stephan Lichtsteiner als Trainer in Wettswil
Publiziert: 02.03.2025 um 11:52 Uhr
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Aktualisiert: 02.03.2025 um 19:02 Uhr

Wettswil am Albis, ein beschaulicher Ort im Knonauer Amt im Kanton Zürich. Zu Gast beim FC Wettswil-Bonstetten mit seinen rund 800 eingeschriebenen Mitgliedern. Klassische Schweizer Fussball-Provinz. An guten Tagen lockt die Dorf-Grösse 200 bis 300 Zuschauer an. Seit 2012 gehören die Zürcher zur höchsten Amateur-Klasse. In der 1. Liga Classic ist der lokale FCWB ein allseits respektierter Konkurrent. Und seit letztem Sommer gibt auf dem Sportplatz Moos eine europaweit bekannte Persönlichkeit den Takt vor: Stephan Lichtsteiner (41), der ehemalige Juve-Star und Ex-Captain der Schweizer Nationalmannschaft. Ein zweifacher Champions-League-Finalist auf kleiner, aber sehr feiner Bühne. 

Samstagnachmittag in Wettswil: FCWB-Coach Stephan Lichtsteiner ist ready für den Erstliga-Heimauftakt im neuen Jahr.
Foto: TOTO MARTI

Im ersten Heimspiel nach der dreimonatigen Winterpause empfängt Lichtsteiners Elf den FC Kosova. Eine unangenehme Bise lässt die Temperaturen gefühlt unter den Nullpunkt sinken. Im Duell mit dem Team der kosovarischen Diaspora ist zu sehen, was auf dieser Stufe oft überwiegt: totale Leidenschaft, pure Emotionen, wenig Souplesse, pickelharte Rencontres. «Es ist nicht immer einfach, alles auszublenden und in der Hitze des Gefechts ruhig zu bleiben», gibt der frühere Top-Verteidiger zu. «Aber wer austeilt, muss auch einstecken können. Das ist kein Problem. Und wenn man verbal mal über die Stränge schlägt, sollte man die Grösse haben, sich zu entschuldigen. Ich musste die Situation auch schon mal mit einem Kasten Bier klären – das gehört eben dazu.» 

Seit über sieben Monaten den Schlüssel in der Hand und alles im Griff in Wettswil – Trainer Stephan Lichtsteiner.
Foto: TOTO MARTI

Lichtsteiner schmunzelt nur, wenn er mit etwas Abstand an die eine oder andere Episode denkt. Sein Ruhepuls ist längst wieder tief. Mit kühlem Kopf schaut er im Office Video-Sequenzen des Spiels an und überlegt sich, mit welchen Massnahmen die Fehlerquelle künftig eingedämmt werden könnte. Details spielen eine Rolle, seine immensen Erfahrungswerte sind hilfreich, um ein rasches taktisches Finetuning vorzunehmen. Lichtsteiners Trainer-Duktus kommt zum Vorschein: «Ich bin überzeugt, dass man mit harter Arbeit das Risiko von falschen Entscheidungen minimieren kann.»

Lichtsteiner und sein Assistent Irhan Abdiji kümmern sich auch um die Details.
Foto: TOTO MARTI

Als Spieler ist er jahrelang emotional mit einer hohen Tourenzahl unterwegs. Während über einer Dekade beherrscht Lichtsteiner das defensive Couloir. Mit Juventus gewinnt er als Stammkraft sieben Meister-Trophäen in Serie. In der Nationalmannschaft ist er unverzichtbar. Er ist einer, der sich nicht nur die Ideallinie aussucht, sondern im Bedarfsfall auch mal den Konfrontationskurs wählt.

Wiedersehen mit einem alten Bekannten: Urs Wolfensberger (links) coachte den 18-jährigen Stephan Lichtsteiner bei GC in der U21-Equipe.
Foto: TOTO MARTI

Noch heute haben einige Beobachter vor Augen, wie er SFV-Spektakelgarant Xherdan Shaqiri auf dem Rasen den Tarif erklärt. «Es war auch während meiner langen Zeit als Spieler immer ein schmaler Grat, nicht zu überborden, sondern irgendwie den Fokus zu halten und Dinge mit bewussten Aktionen zu beeinflussen», sinniert der pragmatische Taktgeber über den früheren Hitzkopf Lichtsteiner.

«
Es war immer ein schmaler Grat, nicht zu überborden.
Stephan Lichtsteiner
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«Einige fragten, warum wir die Situation nicht nach dem Spiel klären würden. Ganz einfach: Dann wären die drei Punkte womöglich weg gewesen!»

Herzliche Begrüssung der Kosova-Akteure durch den Gastgeber Stephan Lichtsteiner.
Foto: TOTO MARTI

Während seiner brillanten Laufbahn gehören Adrenalinschübe zum persönlichen Programm: «Ich brauchte dieses Feuer, um meine Leistung zu erreichen.» Die totale Fokussierung ist an Matchtagen weiterhin spürbar, die Grinta seiner besten Serie-A-Tage mit Juventus hat Lichtsteiner nicht abgestreift. Seine Entschlossenheit bekommt dann und wann auch die Amateur-Konkurrenz zu spüren: «Es wird nie einen Lichtsteiner geben, der nicht ans Limit geht im Fussball. Das gibt es einfach nicht. Emotionen sind Teil meiner Identität.» Aber der Rollentausch ist sichtbar. An der Seitenlinie kanalisiert der 41-Jährige seine Energien bewusster, denkt analytischer, hat das grosse Bild vor Augen: «Es geht um die richtige Balance.»

Gestik und Emotionen pur.
Foto: TOTO MARTI

Mehrere Jahre im Junioren-Spitzenfussball in Basel und teilweise beim SFV haben Lichtsteiners Blickfeld erweitert: «Am Spieltag heisst es, Einfluss zu nehmen, ohne zu übertreiben – den Akteuren Vertrauen zu geben, aber auch gezielt einzugreifen, wenn die Dinge nicht wie gewünscht laufen.»

Die Grinta von einst ist nach wie vor spürbar: «Emotionen sind Teil meiner Identität.»
Foto: TOTO MARTI

Er hat gelernt, seine eigene Anspruchshaltung in den richtigen Kontext zu rücken, er differenziert mehr, begreift, wie sich der Zeitgeist verändert hat. Im Umgang mit jüngeren Akteuren findet er die richtige Tonlage – meistens, nicht immer: «Aber die Jungs wissen, dass es mir nur um den Inhalt geht. Es gehört zu meinem Charakter, bis zum Schluss alles zu versuchen, die Performance positiv zu beeinflussen.»

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«Stephan wird seinen Weg machen.»
Diego Benaglio
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Diese markante Profilveränderung ist auch dem langjährigen Nationalteam-Weggefährten und Freund Diego Benaglio (41) aufgefallen: «Steph hat in diesem Bereich eine unglaubliche Entwicklung gemacht. Wie er auf die Jungen eingeht, wie er viel Verständnis zeigt für gewisse Dinge, ist eindrücklich und cool. Und trotzdem vermittelt er alles mit seiner Einstellung, nur das Beste ist gut genug», sagt der Ex-Keeper. Die Aufgabe in Wettswil sei nicht zu unterschätzen. «Man darf die Spieler herausfordern, aber die Schraube zugleich nicht überdrehen. Das ist für ihn eine Herausforderung mehr und ein wichtiger Lernprozess.»

Wie früher total fokussiert – der Ex-Juve-Star wenige Minuten vor dem Anpfiff der 1.-Liga-Partie.
Foto: TOTO MARTI

Der einstige Meistermacher von Wolfsburg ist zu 100 Prozent davon überzeugt, «dass er seinen Weg als Coach machen wird. Er hat den Kopf dafür und die genau richtige Winner-Mentalität. Ich weiss, wie sensationell er in der Nationalmannschaft seine Rolle als Captain eingenommen hat. Was die Menschenführung angeht, hat er in den letzten Jahren extrem viel gelernt.» Und dann schiebt Benaglio nach, was viele Beobachter mit dem Innerschweizer verbinden: «Er ordnet dem Erfolg alles unter. Wenn du ganz oben ankommen willst, braucht es das.»

Detailpflege während des Spiels.
Foto: TOTO MARTI

Über Benaglios Prognose freut sich Lichtsteiner. Hohe Ansprüche dürfe man durchaus hegen, zumal er beim FCWB ein technisch und taktisch sehr gut ausgebildetes Kader zur Verfügung habe. «Aber wenn man hier unterschreibt, gilt, die Verhältnisse auch mal zu akzeptieren, wie sie sind. Manchmal sind die Platzverhältnisse knapp, und die Jungs trainieren nur dreimal pro Woche. Klar wollen sie gewinnen, aber letztlich ist es ein Hobby mit viel, viel Aufwand.» Ihm schwebe eine Win-win-Situation vor: «Ich lerne, sie haben Spass. Entsprechend sollte man nicht mit zu viel Verbissenheit in ein solches Projekt gehen.»

Lichtsteiners Wiedersehen mit dem ersten GC-Coach

Dass der Mann mit 108 Länderspielen im persönlichen Fundus mittelfristig das Comeback in den grossen Stadien im Sinn hat, steht ausser Frage. Seine Ambitionen sind berechtigt. Hinter ihm liegt nicht nur eine erstklassige Karriere auf dem Feld, er war auch bereit, auf dem Weg zu den Trainer-Diplomen die nationale Ochsentour auf sich zu nehmen. Und bis vor Kurzem figurierte sein Name auf der Assistenten-Shortlist des Schweizer Fussballverbandes, ehe Lichtsteiner dem SFV nach mehreren Verhandlungsrunden eine Absage erteilt hat: «Ich habe Gespräche geführt und mich entschieden, dieses Amt im Moment nicht auszuüben. Das ist ein persönlicher Entscheid und absolut keine Kritik gegen irgendjemanden.»

Nach der Absage als Nati-Assistent geht Lichtsteiners Weg vorerst in Wettswil weiter.
Foto: TOTO MARTI

Sein Weg geht nun vorerst in jener Gemeinde weiter, in welcher er mit seiner vierköpfigen Familie lebt. Sicher bis im Sommer und höchstwahrscheinlich auch danach, wenn er das Finish bis zur Prüfung für die Uefa-Pro-Lizenz in Italien vor der Brust hat und zeitliche Ressourcen benötigen wird. «Für mich sind die Erfahrungen wichtig, die ich hier machen darf. Es geht um das richtige Handling der Spieler, um eine detaillierte Gegner-Analyse, um eine sorgfältige Spielnachbereitung», sagt Lichtsteiner im Gespräch mit Blick und tritt als geerdeter Team-Player auf: «Mit Irhan und Markus als Assistenten, Video-Analyst Pablo und Goalie-Trainer Jelenko sowie der Physio Vicky habe ich ein Top-Team an meiner Seite, das mich enorm unterstützt.» Die Blumen kommen zurück: «Steph führt das Team mit einer unglaublich guten und menschlichen Art. Das beeindruckt mich», schwärmt Vicky Vasiliki Voutyras. 

Freundschaftliches Verhältnis: Stephan Lichtsteiner, der Mann mit 108 Länderspielen, und sein erster Profi-Trainer Urs Wolfensberger.
Foto: TOTO MARTI

Ein paar nette Worte gibt es auch von Kosova-Leitwolf Urs Wolfensberger (62). Der Zürcher hat Lichtsteiner als 18-jähriges Talent schätzen gelernt und in der damals prominenten U21-Auswahl der Grasshoppers gecoacht – an der Seite des heutigen Lugano-Dirigenten Mattia Croci-Torti (42) und des FCZ-Sportchefs Milos Malenovic (40). Nach dem torlosen Remis in Wettswil umarmt Wolfensberger seinen ehemaligen Junior innig: «Er hat mir damals bei GC meinen Job gerettet. Ein Wahnsinn, wie der Junge für diesen Sport brennt!»

Stephan Lichtsteiner lebt den Fussball: «Es wird nie einen Lichtsteiner geben, der nicht ans Limit geht im Fussball!»
Foto: TOTO MARTI
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