Sie waren letzte Woche nicht beim Spiel Deutschland gegen Holland?
Doch, ich war in Düsseldorf. Die Gladbacher haben vor zwei Monaten ein Museum eröffnet. Da hat eine Einzelaustellung begonnen über mich. Ich bin der Erste, der eine Einzelaustellung hat für die nächsten sechs Monate.
Schöne Ehre.
Ich habe die Ausstellung eröffnet. Und ich muss sagen: Ich habe in den letzten vielen Jahren kaum einen so schönen Abend erlebt. Markus Lüpertz, das ist ein alter Freund von mir, ein Künstler in Deutschland, hat die Laudatio gehalten. Das ist das Tollste, was ich je erlebt habe. Ich habe viele Preise gekriegt, aber so eine Laudatio hat es noch nie gegeben, für mich jedenfalls nicht. Das war grossartig. Was mich besonders gefreut hat, war: In dieser Runde waren auch Spieler von 1963 bis 1973, meiner Zeit in Gladbach. Auch Ersatzspieler, die keiner kennt. Das hat mich sehr gerührt, dass diese unbekannten Spieler gekommen sind.
Wie gehts Ihnen mit 75?
Es geht mir sehr gut. Ich klopfe immer auf mein Hirn und sage: Es soll nicht besser werden (lacht).
Vor ihrem 70. Geburtstag sagten Sie: «Bei mir rieselt der Kalk.»
Der Kalk rieselt immer noch, das hat nicht aufgehört. Ich habe Schmerzen überall.
Wirklich?
Ja, hat doch jeder in dem Alter.
Der Rücken schmerzt, wie schon lange?
Ja, der Rücken, das Knie ist kaputt und alles Mögliche. Aber zum rieselnden Kalk gehört Akzeptanz. Das ist ein ganz wichtiges Wort im Alter, dass man sein Alter akzeptiert, dass man den Zustand akzeptiert, in dem man sich befindet. Und damit gut umgeht und gut leben kann. Das kann ich sehr, sehr gut. Ich bin ein rundum zufriedener Mensch, dem es an nichts fehlt. Ich bin privilegiert und dankbar und demütig, dass ich ein solches Leben führen konnte. Es war nicht immer alles erfolgreich in meinem Leben, um Gottes Willen nicht. Ich habe schöne Ohrfeigen gekriegt, das gehört aber zur Charakterbildung dazu, dass man feststellt, dass es nicht immer nur steil bergauf geht. Ich habe eine einzigartige Familie, der ich über alles dankbar bin. Meine Frau hält es schon 41 Jahre mit mir aus, bewundernswert. Aber ich bin auch ein Held mit ihr, das ist nicht nur eine Einbahnstrasse. Wir haben eine wunderbare Tochter, die wächst und wächst, nicht körperlich, sie wächst im Charakter und mit ihren Aufgaben, die sie sich selbst gestellt hat. Ich bin ein rundum zufriedener Mensch. Man sagt, ich ruhe in mir. Das ist das Schönste, was ich erlebt habe.
Im Mai 2016 hatten Sie eine schwere Herzoperation und einmal mehr viel Glück in Ihrem Leben...
Das Glück war meine Frau, sie hat mir das Leben gerettet, indem sie mich ohne mein Einverständnis zu einer Untersuchung bestellt hat. Ich wusste von diesem Termin nichts, ich hätte ihn auch nie akzeptiert. Und dann haben die mich nicht mehr rausgelassen aus dieser Klinik. Um 17 Uhr kam ich zur Untersuchung, am nächsten Morgen um acht wurde ich gleich operiert. Ich habe den Arzt nicht gekannt, ich habe einfach alles über mich ergehen lassen.
Sechs Bypässe sind viel, das ist beinahe ein neues Herz, nicht?
Das sollte man nicht so sagen, habe ich gelernt. Die Ärzte sagen, es ist kein neues Herz, es ist enorm repariert worden. Der Beckenbauer hat das auch gehabt, der hat vier Bypässe, und ich sagte ihm: Du warst Dein ganzes Leben schon schlechter als ich.
Wie gehts Kaiser Franz?
Es geht ihm eigentlich ganz gut. Die vielen Horror-Meldungen, dass er lebensbedroht ist, stimmt alles nicht. Er hat sicherlich viel durchmachen müssen in den letzten Jahren, das hat Spuren hinterlassen. Aber es ist in Ordnung.
Sie haben gesagt, sie wollen nicht mehr allzu viel über Fussball reden...
In der Öffentlichkeit.
Aber mit Sänger Baschi, Ihrem Schwiegersohn in spe, müssen Sie ab und zu über Fussball diskutieren. Er ist FC-Basel-Fan...
Er versteht ja nicht so viel (lacht).
Gabs faule Sprüche, als Ihr Ex-Klub GC abgestiegen ist?
Nein, überhaupt nicht, er hat sich da sehr zivilisiert benommen. Ich habe ihn beobachtet, ob irgendwelche anzüglichen Bemerkungen kommen, nein, grosse Qualität, er hat das unterlassen. Ich war ja auch ein paar Mal mit ihm in Basel, habe diese Europapokal-Spiele verfolgt, das war schon grosse Klasse, was diese Basler geleistet haben. Die haben sehr viel für den Schweizer Fussball getan.
Wann werden Sie Opa?
Es gibt keinen Plan in diese Richtung (lacht). Ich lasse mich einfach mal überraschen.
Die Hochzeit ist aber geplant?
Nein, auch nicht. Nichts, was ich höre.
Thema-Wechsel, haben Sie auch mit 75 noch nie Kleider für sich gekauft?
Nein.
Das erledigt immer noch Ihre Frau für Sie?
Das ist auch so ein Lebensspruch von mir: Ich habe in meinem Leben immer gewusst, was ich kann. Aber ich habe vor allem gewusst, was ich nicht kann.
Sie konnten Fussball spielen, mit Geld umgehen, TV-Verträge aushandeln, sie waren damals ein sehr erfolgreicher Manager beim Hamburger SV...
Richtig. In der Lernphase gibt’s auch Ohrfeigen.
Welches war die schmerzhafteste?
Ich habe auch so eine Gabe, dass ich mich an so was nicht mehr erinnern kann. In der Jugendzeit habe ich einmal falsch investiert. Es war nicht alles steil aufwärts. Es war nichts Gravierendes dabei, das mich in den Ruin gebracht hat. Aber ich war nicht nur erfolgreich. Und daraus habe ich Lehren gezogen. Und dann wurde es besser.
Nach der Herz-OP müssen Sie jetzt doch wieder mit Sport beginnen...
...ne, um Gottes Willen. Der Arzt hat gesagt: Machen Sie ein wenig Sport und gehen Sie spazieren. Jetzt habe ich meine Kumpels angerufen, den Beckenbauer, den Overath, den Vogts und ihnen das erzählt. Und alle drei haben wie aus der Pistole geschossen gesagt: Also so wie früher.... (lacht herzhaft). Solche Freunde muss man doch sofort abschaffen, oder?
Reden wir noch kurz über die wunderschönen Anekdoten ihrer Spieler-Karriere bei Mönchengladbach, Real Madrid und GC.
Ja, da gäbe es einiges zu erzählen.
Sie sagten vorhin, sie wären in Ihrer Strasse der Kleinste gewesen, der legendäre Trainer Hennes Weisweiler pflegte aber zu sagen: «Abseits ist, wenn das lange Arschloch zu spät abspielt...»
Ja, das war seine Definition von Abseits.
Und als Sie als Gladbach-Profi die Disco «Lovers Lane» eröffneten...
Da sagte er: Das ist das Ende.
Heute wäre es unmöglich, aus Madrid als Real-Star an einem Wochenende unerkannt an die Hochzeit des Jahres nach Las Vegas zu fliegen...
(Lacht laut).
Ohne Reisepass, dazu ...
Das ist ja eine unglaubliche Geschichte, die man nicht wiederholen könnte. Die Regeln in Madrid damals waren sehr hart. Das war schon eine Disziplinarordnung wie in der heutigen Zeit. Wir mussten den Pass abgeben, wir mussten dem Klub melden, wenn wir weiter als 30 Kilometer verreisen wollten ...
Da reichts knapp nicht für Las Vegas ...
Ja, das sind ein, zwei Kilometer weiter. Das war wirklich eine einmalige Geschichte, die mich einfach gereizt hat. Unter dem Strich hätten natürlich fünf Kündigungen stattgefunden, wenn die mich erwischt hätten.
Es ging um die Hochzeit von Tina Sinatra, der Tochter des weltberühmten US-Entertainers Frank Sinatra. Da war logischerweise die Presse dabei. Wie haben Sie es bei all dem Rummel geschafft, dass Sie nicht erkannt wurden?
Wenn da Fotografen an den Tisch kamen, dann bin ich immer unter den Tisch gekrochen. Und diese Leute, das war dann wirklich dramatisch. Der Dean Martin war da, der Sammy Davis Junior. Sinatra war 15 Jahre nicht mehr nach Las Vegas zurückgekommen. Denn er hatte einen Riesen-Streit gehabt in Vegas. Zum Anlass seiner Tochter ist er wieder aufgetreten, das war das Ereignis in Amerika, und es gab kein Hotelbett in ganz Las Vegas. Es gab keinen Stuhl mehr in dieser Veranstaltung. Und wir, der Michael Pfleghar und ich ...
Pfleghar, der deutsche Regisseur, der in 70ern unter anderem die Kult-Serie «Klimbim» mit Ingrid Steeger und Elisabeth Volkmann produzierte ...
Ja, mein bester Freund. Und er war ein enger Freund der Sinatra-Familie, das hat mich so gereizt, da hinzugehen, und dann haben wir das gemacht. Dann kamen diese Fotografen und Fernseh-Kameras – und ich immer unter dem Tisch. Die haben gedacht, der hat sie nicht mehr alle, der hat einen Schuss da, dieser Typ aus Deutschland. Dann hat mir Sinatra selbst ermöglicht, Elvis zu sehen ...
Am selben Wochenende?
Am nächsten Tag! Das war in Vegas so, da war Sinatra da, am nächsten Tag Elvis, ein Gigant nach dem anderen. Das war unmöglich, eine Karte zu kriegen. Elvis war über Monate ausverkauft. Und dann rief der Sinatra da an und schon sassen wir in der ersten Reihe mit `ner Flasche Champagner vor der Nase (lacht).
Eine andere legendäre Episode ist die aus dem Pokalfinale 1973 zwischen Mönchengladbach und dem 1. FC Köln, als Sie am Spieltag verärgert abreisen wollten ...
Ich war ja schon weg. Ich habe ja schon die Koffer gepackt. Und habe dann den Berti Vogts, den Jupp Heynckes und den Herbert Wimmer auf dem Weg nach Hause getroffen, und die haben gesagt: «Was ist los?» Ich sagte, ich geh nach Hause. Der Trainer hat sich entschlossen, mich nicht spielen zu lassen. Die sagten: «Das geht ja gar nicht. Du hast zehn Jahre mit uns gelebt. Das bist du uns schuldig. Setz dich auf die Bank.» Dann habe ich gesagt, das sehe ich ein, ich setz mich auf die Bank.
Und dann?
Wir kamen ins Stadion, die haben getobt, die Leute, die haben gesehen, dass ich nicht spiele. Dann war das ein Spiel, das ging rauf und runter. Es war – bis heute – eines der besten Spiele, das je in Deutschland stattgefunden hat. In der Halbzeit hat der Weisweiler die Stimmung gespürt, die gegen ihn war. Die Leute waren gegen ihn eingestellt, weil der Alte mich nicht aufgestellt hatte. Dann kommt der und sagt, ich soll jetzt eingewechselt werden. Dann geh ich hin und sage vor versammelter Mannschaft: Nein, ich spiele nicht. «Warum nicht?» Da sage ich: Das ist das beste Spiel, das wir in der ganzen Saison, vielleicht seit Jahren, gemacht haben. Ich kann der Mannschaft nicht helfen. Wenn ich da jetzt reinkomme, bin ich ein Fremdkörper. Es geht nicht besser, wir können nicht besser Fussball spielen. Ich geh da nicht rein. «Ja, da kann ich nix machen», sagte er.
Wie gings weiter?
Als wir wieder rauskamen und die Leute das gesehen haben, haben die wieder getobt. Dieser verdammte sture Bock hat den noch immer nicht eingesetzt. Die wussten doch nichts von dieser Konversation, die wir geführt haben. Das Spiel geht weiter. Rauf und runter. 90 Minuten, 1:1, Verlängerung. Dann kommt so ein junger Bursche, Christian Kulik hiess der. Der fällt vor meinen Füssen zu Boden. Da sage ich: «Was ist Christian, kannst du nicht mehr?» Da sagte er: «Ich kann nicht mal mehr aufstehen.»
Und Sie reagierten.
Das sind so Momente in meinem Leben, die immer wieder passiert sind, die ich nicht erklären kann. Deswegen sage ich, ich bin ferngesteuert. Irgendwas, ohne die Esoterik zu bemühen, ohne höhere Mächte zu bemühen, irgendwas ist passiert. Rein instinktiv ziehe ich mir die Trainingsjacke aus, lauf an Weisweiler vorbei, und sage: Ich spiel denn jetzt.
Wie reagierte Ihr Trainer?
Ja, was soll der machen? Um Himmels willen, wenn der jetzt gesagt hätte Nein, können Sie sich vorstellen, was da losgewesen wäre? So, und dann passiert etwas, ich scherze immer über die Sache ...
... der wunderschöne Doppelpass mit Rainer Bonhof...
Ja, ich scherze und sage ...
... der hat doch nie im Leben zuvor einen solchen Pass gespielt ...
... nie! 10 Jahre lang hat er geübt, nie, auch nur annähernd. Aber in der Sekunde passiert’s, ich renne hinterher, treffe den Ball völlig falsch, er springt auf vorher, deshalb treffe ich ihn mit dem Aussenspann, nur deswegen landet er oben im Winkel. Der wäre ein harmloser Roller geworden. Aber das ist alles vorbestimmt. Das gibt’s ja gar nicht, so etwas. So viel Glück kann man in 100 Jahren nicht haben, diese Geschichte gibt’s nicht mehr, die ist einzigartig.
Zum Schluss. Was wollen Sie in Ihrem Leben noch erreichen?
Natürlich nichts, um Gottes Willen. Es ist alles so wunderbar gegangen, dass ich mein Glück eigentlich nicht fassen kann. Mein Leben ist vollkommen, nie so erträumt in jungen Jahren. Aber ich muss sagen, ich habe auch meine Chancen genutzt. Bei jedem Mensch kommen Chancen vorbei im Leben, wenn man die nicht nutzt, dann ist es schade. Ich glaube, ich habe die Chancen, die bei mir vorbeikamen, genutzt und was daraus gemacht. Und wie gesagt: Ich klopfe auf mein Hirn, es soll nicht besser werden.
Seit wann sind Sie Schweizer?
(Er nimmt sein Portemonnaie hervor und zeigt seine ID) 10. September 2015. Vier Jahre, sehen Sie. Als wir Schweizer wurden, haben wir kurz danach eine Reise gemacht. Und da hat der Zöllner gesagt: Herr Netzer, ich kenne Sie. Ne, sagte ich, ich zeige Ihnen jetzt meinen Pass.
Was sagen Sie als Schweizer zu einem eventuellen Rahmen-Abkommen mit der EU?
Dazu möchte ich mich eigentlich nicht äussern. Nur soviel: Ich habe mich immer als Gast dieses Landes gefühlt. Und habe immer gesagt: Passt auf Euer Land auf! Die Schweiz ist das pure Paradies. Vielleicht wisst Ihr manchmal gar nicht, wie schön es hier ist. Und wie geordnet und geregelt hier alles ist. Und welche Vorteile es hat, hier zu leben. Das haben wir immer so empfunden als Gast dieses Landes. Und das sind insgesamt immerhin schon dreissig Jahre. Als ich Spieler war bei GC und dann nach einem Jahr wieder gegangen bin, habe ich gesagt: Hierhin komme ich zurück. Ich wusste, dass ich irgendwann nach Zürich zurückkomme.