So lief die Schande von Aarau
Ein Deal verhindert das Schlimmste

Nach dem 2:3 des FC Aarau gegen Stade Lausanne-Ouchy attackieren Teile der Fans die Spieler und wollen das Stadioninnere stürmen. Ein Deal zwischen Präsident und Fans verhindert das Schlimmste.
Publiziert: 12.03.2023 um 16:41 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2023 um 18:39 Uhr
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Das Areal hinter der Haupttribüne im Brügglifeld: Von hier wollten die wütenden FCA-Fans die Katakomben stürmen.
Foto: Blick
Fussballredaktion

Samstagabend im Stadion Brügglifeld, kurz nach 20 Uhr: Eine Horde wütender Aarau-Fans stürmt zum Spielereingang hinter der Haupttribüne. Eine Glastür geht zu Bruch, weiter kommen sie jedoch nicht, weil ein Gitter den Zugang versperrt. Als einige vermummte Gestalten es an anderen Eingängen versuchen, kommen sie auch dort nicht weiter: alles dicht!

Drinnen erleben Spieler der Aarauer und von Gegner Stade Lausanne-Ouchy, deren Verwandte, Schiedsrichter, Funktionäre, VIP-Gäste und FCA-Angestellte bange Minuten. Kommen sie hier heil wieder raus?

Knapp eine Stunde zuvor verliert der FC Aarau das Heimspiel gegen die Waadtländer mit 2:3. Das Heimteam führt bis in die Nachspielzeit mit 2:1, ehe zwei Gegentore in den Schlussminuten die letzten Hoffnungen auf den Aufstieg erlöschen. Und zur Schande von Aarau führen. Schon vor dem Abpfiff wollen einige Hardcore-Fans aufs Spielfeld, nach dem Spielende gelingt es ihnen dann. Dabei geht eine teure LED-Werbebande kaputt – und in der Folge noch viel mehr, materiell, emotional und imagemässig.

Die Lage war enorm brenzlig

Die FCA-Mannschaft und Trainer Boris Smiljanic stellen sich der tobenden Meute, auf dem Rasen kommt es zu Handgemengen, Schubsereien und üblen Beschimpfungen zwischen den Parteien. Als die Spieler in die Kabine abziehen und der Platz wieder geräumt ist, scheint die brenzlige Situation gelöst. Denkste!

Kurz darauf tauchen die sogenannten Fans hinter der Haupttribüne auf. Nachdem sie realisieren, dass sie nicht rein können, fordern sie die Trikots der Spieler. Die ultimative Form der Demütigung. Die Message der Aktion: Ihr Spieler seid das Trikot nicht wert, wir Fans schon! So gesehen überrascht die Heftigkeit der Eskalation in Aarau an diesem Abend: Der FCA enttäuscht sportlich in dieser Saison, statt auf Aufstiegskurs dümpelt er im Mittelfeld. Aber von Abstiegsgefahr und anderen Zerfallserscheinungen ist der Klub vom Brügglifeld weit entfernt.

Item: Im Moment der Eskalation gilt es, einigermassen heil aus der Sache rauszukommen. FCA-Präsident Philipp Bonorand berät mit seinem Sicherheitschef die Lage. Die Trikots rauszurücken, ist keine Option, die Spieler lehnen das mit Vehemenz ab. Einfach nichts zu tun, geht indes auch nicht: Die Fans scheinen zu weiteren Gewalttaten bereit, die Sicherheit der Spieler und anderen Menschen im Stadion ist gefährdet, die Lage in diesen Minuten enorm brenzlig.

Da kommt Bonorands Vergangenheit als Fan zum Tragen: In seiner Jugend verfolgt der Unternehmer die Spiele in der Kurve und ist damals einer der Gründungsväter des Fanklubs «Affenkasten Tequila Front».

Bonorand holt den Anführer der «Szene Aarau» (Übernamen der FCA-Hardcorefans) zu sich ins Büro, zusammen beschliessen sie einen Deal: Der Anführer darf im Namen der «Szene Aarau» in der Kabine zur Mannschaft sprechen, dafür verlassen die Fans im Anschluss das Stadion. In der Garderobe wirds laut und emotional, auch Spieler äussern ihr Unverständnis für das Verhalten der Fans. Bonorand spricht aber von einem «gemessen an den Umständen fairen und gesitteten Austausch».

Hat der FC Aarau ein Fanproblem?

Kurz vor 21 Uhr zieht die Fangruppe ab. Danach verlassen die Spieler das Brügglifeld, fallen in die Arme ihrer Verwandten und Bekannten, die draussen sehnsüchtig warten. Ein Kurier bringt Pizza für die Spieler von Stade Lausanne-Ouchy, die mit der Schachtel unter dem Arm den Bus besteigen und die Heimfahrt antreten.

Am Tag danach trifft sich Präsident Philipp Bonorand mit Sportchef Sandro Burki zur Lagebesprechung. Die Vorfälle stecken den Verantwortlichen tief in den Knochen. Hat der FC Aarau ein Fanproblem? Schliesslich ist es nicht der erste Zwischenfall in dieser Saison: Nach dem 1:6 in Wil Mitte November blockieren die FCA-Fans den Mannschaftsbus und geben ihn erst frei, als sich der Präsident und einige Führungsspieler stellen.

Philipp Bonorand sagt: «Wir haben in Aarau insofern ein Problem, dass die Leute, und da rede ich nicht nur von den Hardcore-Fans, die Situation nicht mehr einordnen können. Ja, die Saison läuft enttäuschend, mit dem Aufstieg wirds wohl nichts mehr: Aber es ist Fussball, ein Spiel. Immer wieder zeigt sich, wie unberechenbar dieser Sport sein kann. Ich möchte nicht wissen, was hier los wäre, wenn wir kurz vor dem Abstieg stehen würden. Die Führungscrew und alle Angestellten leisten jeden Tag sehr viel, um den FC Aarau am Laufen zu halten. Wir haben vor drei Jahren den Klub während einer Pandemie übernommen und nach einem Neuaufbau letztes Jahr den Aufstieg hauchdünn um ein Tor verpasst. In dieser Saison läuft es nicht wie gewünscht. So ist der Sport. Dieses Verständnis ist rund um den FC Aarau leider verloren gegangen.»

Die Sachbeschädigungen und Gewaltandrohungen der Fans verurteilt Bonorand aufs Schärfste. «In der Ukraine sterben jeden Tag Leute im Krieg – und hier führt ein Spiel zu solchen Grenzüberschreitungen, das passt einfach nicht zusammen. Matchbesucher im VIP-Raum, Spieler und Schiedsrichter müssen Angst haben, ob sie das Stadion gesund verlassen können, dafür fehlt mir jedes Verständnis.»

Denkt Bonorand sogar an einen Rücktritt? «Schon in den vergangenen Wochen sind einige Dinge passiert – und nun das. Ich weiss, was wir intern leisten und wie viel Mühe sich jeder hier gibt. Und dann bin ich plötzlich zur Entscheidung gezwungen, was zu tun ist, um die Gesundheit der Menschen im Stadion zu gewährleisten. Ich liebe den FC Aarau, aber natürlich mache ich mir diese Gedanken.»

Ob der FC Aarau wegen den Sachbeschädigungen Anzeige erstattet, ist noch unklar. Klar ist hingegen: Der Preis für die 2:3-Niederlage gegen Stade Lausanne-Ouchy ist immens. In allen Belangen.

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