Folgen einer aufopferungsvollen Profi-Laufbahn
Schweizer Stars zeigen ihre Karriere-Narben

Gehirnerschütterungen, gebrochene Knochen, gerissene Bänder. Wer den Sport zum Beruf hat, kommt selten ohne Verletzungen durch. Giulia Steingruber, Dominique Herr, Tina Weirather und Patrick von Gunten über Operationen, Folgeschäden und den Preis des Erfolgs.
Publiziert: 28.05.2023 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 29.05.2023 um 09:44 Uhr
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Ex-Turnerin Giulia Steingruber steht heute zu ihren Narben am Körper.
Foto: BENJAMIN SOLAND
Sarah van Berkel

Giulia Steingruber

Kunstturn-EM Basel 2021. Alle warten auf Giulia Steingruber – Aushängeschild, Fanliebling, Mitfavoritin. Nach langer Wettkampfpause und Verletzungs-Odyssee ist die Turnerin endlich zurück an ihrer ersten Europameisterschaft in fünf Jahren. Doch wenige Minuten vor dem Start des Mehrkampf-Finals kommt die Hiobsbotschaft: Die Schweizerin muss wegen muskulären Problemen im linken Oberschenkel Forfait erklären.

Die Entscheidung, nicht anzutreten, fällt sie erst auf dringendes Anraten ihres Ärzte- und Trainerteams. «Ich wollte unbedingt turnen. Denn wenn es um Wettkämpfe geht, bin ich all in.» Tage später wird sie Europameisterin im Sprung – trotz Muskelfaserriss.

Sportlich hat sich die Aufopferung für Giulia Steingruber auf jeden Fall gelohnt.
Foto: Keystone

Es ist ein ständiges Abwägen. Von ihr und von ihrem Betreuerteam. Damals in Basel und während ihrer gesamten Karriere. «Eine solche Entscheidung kann einen Lebenstraum zerstören – oder die Gesundheit.»

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«Ich bin nicht sehr schmerzempfindlich.»
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Auf der einen Seite ihrer Waage: zehn EM-Medaillen, davon sechs Mal Gold, ein WM-Podest und Olympiabronze als erste Schweizer Turnerin. Auf der anderen Seite: ein Kreuzbandriss, Knochenabsplitterungen, Bänder- und Knorpelschäden in den Füssen sowie mehrere Operationen. «Ich bin nicht sehr schmerzempfindlich», sagt die 29-Jährige. Das hat Vor- und Nachteile. «Einiges hätte wohl verhindert werden können, wenn ich früher und besser auf die Signale meines Körpers gehört hätte.»

Sie sagt es sachlich, ohne Bedauern. Trotz vielen Rückschlägen, Verletzungen und schwierigen Comebacks, die ihre Geduld auf die Probe stellten, haderte sie selten. «Wahrscheinlich auch wegen Désirée», sagt Steingruber und spricht auf ihre ältere Schwester an, die seit Geburt körperlich und geistig behindert war und 2017 im Alter von 26 Jahren starb. «Durch sie hatte ich immer vor Augen, welch ein Privileg es ist, zu turnen. Ihre Situation hat meine Verletzungen und Beschwerden immer wieder relativiert.»

«Die Narben gehören zu mir», sagt Ex-Turnerin Giulia Steingruber über ihre Verletzungen.
Foto: Facebook /Giulia Steingruber

Vor eineinhalb Jahren trat Giulia Steingruber vom Spitzensport zurück, weil Körper und Kopf müde waren. Was ihre Verletzungen betrifft, geht es der 29-Jährigen heute sehr gut. Dank längerer Sportpause. Und erneuten Operationen, in denen in beiden Füssen Knochensplitter entfernt wurden. Im rechten Fuss wurden zudem das Aussenband mit einem Leichenband ersetzt und das Innenband gekürzt. Das Syndesmoseband wurde mit zwei Plättchen und einer Art Seil verstärkt, die nun Schien- und Wadenbein zusammenhalten.

Stolz auf ihre Narben an den Achillessehnen, den Knöcheln und dem Knie ist sie nicht. «Aber ich verstecke sie auch nicht. Sie gehören zu mir, sie erzählen meine Geschichte», sagt Steingruber, die eine Marketing-Ausbildung absolviert und im Sportmarketing arbeitet.

Ihr nächstes Kapitel soll wieder mit etwas mehr aktivem Sport zu tun haben. Denn: «Ich kann nun zwar auf einem Kiesweg rennen, ohne dass meine Füsse ständig umknicken. Allerdings komme ich nun keuchend an, weil ich keine Kondition mehr habe!» Um wieder mit Turneinheiten anzufangen, fehlt ihr die Motivation. «Das wäre nur frustrierend. Ich mag keine halben Sachen.» Kampfsport würde sie reizen. All in – aber mit grösserer Rücksicht auf ihren Körper.

Dominique Herr

Sein Gang ist etwas steif. Er lässt erahnen, dass Dominique Herr (57) einige Wehwehchen hat. «Bräschte», nennt er sie in breitem Basler Dialekt. Es sind keine Altersgebrechen, sondern Nachwehen seiner Fussballkarriere: Zwischen 1984 und 1996 spielt er beim FC Basel, bei Lausanne-Sport und dem FC Sion und absolviert 52 Spiele für die Schweizer Nati.

Dominique Herr 1992 im Lausanne-Dress setzt zur Grätsche an gegen GC-Star Mats Gren.
Foto: Blicksport

«Ich habe Arthrose in den Fussgelenken, in den Knien und im Rücken.» Seine gute Laune lässt sich der Basler deswegen nicht verderben. «Profisport ist halt ein extremer Beruf. Manche haben Glück, manche haben Pech.» Er zählt sich zu den Glücklichen. Er weiss: Es hätte viel schlimmer kommen können.

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«Über Langzeitschäden habe ich gar nicht nachgedacht.»
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Der Innenverteidiger ist 18 Jahre alt, als er sich seine erste Gehirnerschütterung zuzieht. Im Trainingslager prallt er mit einem Gegenspieler Kopf an Kopf aneinander, verliert das Bewusstsein und landet im Spital. Folgenschwere Zusammenstösse wie diese kommen im Lauf seiner Karriere immer häufiger vor. «Ich habe nicht gezählt, aber es waren sicher weit mehr als sieben Gehirnerschütterungen.» Irgendwann reicht schon ein nicht ideal getroffener Kopfball, und Herr wird kurz ohnmächtig.

Statt die Kopfverletzungen auskurieren zu lassen, steht er regelmässig am nächsten Tag schon wieder auf dem Platz. «Ich machte, was die Ärzte sagten. Ihnen fehlte damals wohl die Sensibilität und das Wissen, welche Auswirkungen das haben könnte.» Ihn zu bremsen, wäre aber so oder so schwierig geworden, gibt er zu. «Über mögliche Langzeitschäden habe ich gar nicht nachgedacht. Es war mir egal. Ich wollte spielen, gewinnen, Erfolg haben – koste es, was es wolle», sagt Herr. Dies sei auch sein Erfolgsrezept gewesen. «Ich war kein riesiges Talent, sondern habe mir alles erkämpft.» So etwa die WM-Teilnahme 1994 als Stammspieler. «Das war ein absolutes Highlight.»

Dominique Herr kämpft am 12. Oktober 1994 im Wankdorf-Stadion in Bern mit dem Schweden Martin Dahlin um den Ball.
Foto: Keystone

Zwei Jahre später befolgt Herr erneut den Rat seiner Ärzte – und tritt zurück, um bleibende Hirnschäden zu vermeiden. Heute spürt er keine Nachwirkungen seiner Kopfverletzungen. Notbremse sei Dank. Dass sein Gang wegen der Arthrose nicht mehr so geschmeidig ist und er keinen Sport mehr treiben kann – damit kann er gut leben. «Ich bereue nichts.»

Patrick von Gunten

Vor zehn Jahren ist es so weit: Die Schweiz holt nach 60-jähriger Wartezeit endlich wieder eine Medaille an der Eishockey-WM. Mit dabei im Team der Silberhelden und mitverantwortlich für einen der legendärsten Schweizer Eishockeymomente: Verteidiger Patrick von Gunten. «Das war ein grosses Highlight meiner Karriere und Erinnerungen, die fürs Leben bleiben!», sagt der 38-Jährige, der in seiner 16-jährigen Profikarriere 759 Nationalliga-Spiele mit Biel und Kloten sowie 94 Nationalspiele absolviert hat. Die Kehrseite der Medaille: zwei ausgeschlagene Zähne, eine Hand-, eine Rücken- und mehrere Hüftoperationen. «Am schlimmsten war der Rücken. Es gab Phasen, da konnte ich mich nicht mehr bücken.»

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«Ich würde meine Erfolge für nichts eintauschen wollen.»
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Über Jahre gehören für von Gunten Besuche bei Ärzten, Chiropraktikern und in der Physiotherapie zum Alltag. Seine Schmerzen und Verletzungen werden auch mit Kortison-Spritzen behandelt. «Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele es waren.» Vor fünf Jahren zwingen ihn die chronischen Rücken- und Hüftbeschwerden zum Aufhören. «Verzweiflung spürte ich nicht, eher eine Art Resignation.»

Patrick von Gunten (l.): immer vollen Körpereinsatz auf dem Eis.
Foto: Keystone

Nach dem Rücktritt wird es mit den Schmerzen nicht sofort besser. «Tschutten mit meinen Buben konnte ich damals nicht», sagt von Gunten, dessen Söhne heute neun und sechs Jahre alt sind. Konsequentes Krafttraining und ein künstliches Hüftgelenk verhelfen ihm schliesslich zu neuer Lebensqualität. «Ich kann auch wieder Ski fahren, rennen oder wandern.»

Gar Eishockey spielen geht. Einmal pro Woche steht von Gunten mit Klotens Veteranen auf dem Eis. Oft ist er auch auf der Tribüne anzutreffen – wenn seine beiden Söhne spielen. Ob sie einmal in seine Fussstapfen treten? Davon abhalten würde sie von Gunten trotz seiner Verletzungsgeschichte nicht. «Ich habe so viel gelernt durch den Sport und profitiert für mein Leben», sagt der Unternehmensberater mit Masterabschluss. «Ich würde meine Erfolge für nichts eintauschen wollen. Das Positive überwiegt.» Trotz seiner Narben täglich vor Augen. Und der WM-Silbermedaille ausser Sichtweite – sorgfältig in einer Kiste aufbewahrt.

Röntgenaufnahmen zeigen: Patrick von Gunten muss heute mit einer künstlichen Hüfte leben.
Foto: zVg

Tina Weirather

Tina Weirathers Verletzungsakte ist lang: vier Kreuzbandrisse, sieben Knieoperationen, fünf Handbrüche, vier Wirbelbrüche. Pech? «Nein», sagt die Liechtensteinerin mit Nachdruck. «Ich habe Fehler gemacht, wie jeder Mensch in seinem Berufsalltag. Im Skisport hat halt jeder kleinste Fehler krasse Auswirkungen.» Die Gründe ihrer Stürze zu analysieren, hat ihr geholfen, sich nach jeder Verletzungspause zurückzukämpfen: «Hätte ich geglaubt, dass meine Unfälle Zufall oder Pech gewesen sind, hätte das ja völligen Kontrollverlust bedeutet. Dann hätte ich nie mehr mit gutem Gefühl Ski fahren können.»

Einer von vielen Verletzungs-Rückschlägen bei Tina Weirather: Im Abfahrts-Training 2007 in der Lenzerheide muss die Liechtensteinerin abtransportiert werden.
Foto: TOTO MARTI

Doch Weirather tut es. Auch dank den Lehren, die sie aus ihren Verletzungen zieht. Das sind material- oder fahrtechnische Details. Oder die Erkenntnis, dass sie nicht immer nur Vollgas geben kann: «Früher machte ich im Training weiter, auch wenn mein Bauchgefühl Stopp sagte. Und in den Rennen fuhr ich von oben bis unten auf Zug – mit verheerenden Folgen», sagt die 34-Jährige.

Die Balance zu finden zwischen Furchtlosigkeit und Vorsicht, Gas geben und aufs Körpergefühl hören, ist nicht einfach. «Denn wenn dir als Sportlerin nicht irgendetwas wehtut, da eine Prellung, dort ein Ziehen, trainierst du wohl zu wenig hart!» Doch es gelingt ihr, wie ihr Palmarès beweist: neun Weltcupsiege, zwei kleine Kristallkugeln, Olympia-Bronze und WM-Silber sind auf Papier Weirathers grösste Erfolge: «Diese Siege und Medaillen sind wunderschön und auch Lohn und Bestätigung für die ganze Arbeit. Doch wichtiger sind für mich die Erlebnisse, die Menschen, die ich kennengelernt habe, und was ich auf dem Weg gelernt habe.

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«In zehn Jahren ist der Skisport viel sicherer.»
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Heute gibt sie das Gelernte an die nächste Generation weiter: Die SRF-Ski-Expertin wirkt zusammen mit anderen Fachpersonen aus Skisport, Industrie und Sportwissenschaft in der «Athletes Health Unit» des Internationalen Skiverbands FIS mit. Der Fokus der Organisation liegt derzeit auf der Verletzungsprävention im alpinen Skisport.

«Man kann sehr viel tun. Etwa mit Sprüngen auf dem Trampolin oder in die Schnitzelgrube lernen, wie man sich in der Luft verhält. Oder auf Schnee trainieren, wie man nach einem Fehler richtig reagiert, um Kreuzbandrisse zu vermeiden.» Das Problem: Viele wollen sich nicht damit beschäftigen, um keine negativen Gedanken im Kopf zu haben. «Deshalb sollte schon in der Jugend damit begonnen werden, damit das Thema enttabuisiert wird.» Ihre Vision: «In zehn Jahren ist der Skisport viel sicherer.» Dank optimalem Austausch zwischen Ausrüstern und Verband, Airbags, schnittfester Unterwäsche und elektronischen Ski-Bindungssystemen.

Das Thema Verletzungen sollte enttabuisiert werden, findet Tina Weirather.
Foto: AP

Folgeschäden hat Tina Weirather keine. «Wir witzeln immer, dass mein Körper wie eine Katze ist – mit erstaunlichen Selbstheilungskräften.» Das ermöglicht es ihr, auch heute noch sportlich sehr aktiv zu sein. Sie liebt Yoga, Kitesurfen und Gleitschirmfliegen. Crossfit und klassisches Krafttraining macht Weirather regelmässig, um für die Kamerafahrten fürs Schweizer Fernsehen fit zu sein. Schmerzen plagen sie heute äusserst selten. Die Ausnahme: ab und zu einen Muskelkater, wenn ihr Ehrgeiz sie wieder gepackt hat.

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