Wie die Karriere von Cedraschi in den USA missglückt
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«Aus Depression wird Esssucht»:Wie die Karriere von Cedraschi in den USA missglückt

Tabuthema Suizid im Sport
«Als der Traum von Olympia platzte, kam der grosse Absturz»

Riccarda Cedraschi (35) hatte als Sportlerin Suizidgedanken. Sie spricht über ihren endlosen Kampf auf dem Weg an die Spitze – als junge Eishockeyspielerin scheitert sie und steht wenig später mit 60 Kilo Übergewicht vor dem Abgrund.
Publiziert: 06.02.2023 um 20:58 Uhr
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Aktualisiert: 07.02.2023 um 15:27 Uhr
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Pyramide des Lebens: Bei Riccarda Cedraschi drehte sich stets alles um den Puck.
Foto: PIUS KOLLER
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Sebastian RiederSportreporter

Die Jagd nach dem Puck hätte sie fast das Leben gekostet. Alles auf den Sport ausgerichtet – ein Leben lang. Das Kind aus Kloten ist knallhart und kompromisslos. «Das Eis war mein Ein und Alles», sagt Riccarda Cedraschi. «Ich habe das Hockey über alles geliebt und bin schon als kleines Mädchen den Buben um die Ohren gefahren.»

Ihr Talent als Teenager ist zwar überschaubar, der Ehrgeiz aber grenzenlos. «Ich habe alles versucht, um ein Leben als Profi zu führen.» Kaum ist sie volljährig, verfolgt sie das Ziel von den Winterspielen 2010 in Vancouver und wagt den Schritt über den grossen Teich nach Kalifornien. Die Mission misslingt. Sie verpasst die Selektion für die Nati und steht vor einem Scherbenhaufen. «Als der Olympia-Traum platzte, kam der grosse Absturz», sagt Cedraschi.

Sie fällt tief und sieht keinen Sinn mehr im Leben. Die Scham des Scheiterns führt dazu, dass sie sich von ihrem Umfeld abkapselt und im Strudel der Depression vereinsamt. «Ich habe mich dann auch gefragt, ob es irgendjemandem überhaupt auffallen würde, wenn es mich nicht mehr geben würde.»

Krebstod führt zu Sinneswandel

Die Verzweiflung führt so weit, dass der Gedanke aufkommt, sich umzubringen. «Ich habe mir überlegt, wie es am wenigsten wehtut.» Tief in ihr drin findet sie jedoch eine neue Kraft, entfacht durch eine alte, tragische Geschichte. Der Bruder ihres besten Freunds erkrankte vor ein paar Jahren an Krebs. Ihr Kumpel sagte damals in einer Runde zum Thema Suizid: «Mein Bruder hätte alles dafür getan, um zu leben – und hatte keine Chance. Und andere entscheiden einfach, es zu beenden.» Als Cedraschi selbst vor dem Abgrund steht, kommt die Erinnerung wieder hoch. «Diese Worte und mein Kampfgeist aus dem Sport haben mich davon abgehalten, mir selbst das Leben zu nehmen.»

Suizidgedanken im Sport sind nichts, wofür man sich schämen muss – sind jedoch noch immer ein tabuisiertes Thema, findet Cedraschi. «Viele Leute haben sicher ein allgemeines Verständnis für Depressionen in der Gesellschaft, aber nicht im Sport. Nur wenige können wirklich nachvollziehen, wenn man als Athlet alles reinsteckt und dann alles verliert.»

Anstoss zur Aussage sind Meldungen von Suizidfällen aus vergangenen Monaten – darunter auch drei Frauen. Die australische Freestylerin Brittany George (†24), die US-Langstreckenläuferin Sarah Shulze (†21) und die südkoreanische Triathletin Choi Suk Hyeon (†22) – das Trio vereint der verlorene Kampf mit den dunklen Gedanken.

Die Gründe für die Krise sind allerdings unterschiedlich: George muss wegen einer Verletzung den Sport aufgeben und findet keine Perspektive mehr. Shulze schlittert beim Spagat zwischen Sport und Studium in ein Burnout. Und Choi zerbricht am sexuellen Missbrauch durch den Mannschaftsarzt – ihr Aufschrei bleibt ungehört.

Olympia als friedlicher Krieg

Riccarda Cedraschi will den Verstummten eine Stimme geben und wehrt sich gegen kritische Anmerkungen, die sie in Artikeln über das Ableben der Athletinnen gefunden hat: «Gewisse Kommentare von Lesern machen mich extrem wütend. Da ist teilweise null Verständnis da.» Ein Leser hat mal geschrieben: «Warum nur wegen ein bisschen Sport!?»

Cedraschi nervt diese Abwertung: «Das ist nicht ein bisschen Sport. Es ist das Leben, das man aufgibt.» Die Todesmeldungen der drei Frauen katapultieren Cedraschi in die eigene Jugend. Heute fällt es der 35-jährigen Mutter und Fachdisponentin leichter, darüber zu sprechen. Sie macht das in der Eishalle Luzern, wo der Girls-Kids-Day stattfindet. «Wenn ich die Mädchen da spielen sehe, geht mir das Herz auf. Ich hätte auch gern so trainiert.»

Rückblende: In Kloten als Adoptivkind aufgewachsen, verbringt die kleine Riccarda mit ihrem neuen Vater jede freie Minute auf dem Eis – dort ist sie glücklich und sorgenfrei: «Es war ein unglaubliches Gefühl. Ich habe mich mit den Schlittschuhen von Anfang an unglaublich wohlgefühlt – als wäre ich auf dem Eis geboren.» Später, mit der Ausrüstung am Körper, fühlt sie sich wie eine Kriegerin – auserwählt für die Olympischen Spiele. «Ich habe mir vorgestellt, wie ich als Heldin mit dem Schweizer Kreuz auf der Brust in die Schlacht ziehe», sagt Cedraschi, mit der Melodie von «Conquest of Paradise» im Ohr. «Meine Vision von Olympia fühlte sich an wie ein grosser, friedlicher Krieg.»

Das olympische Feuer entfacht bei ihr das brennende Bedürfnis, das Leben eines Hockeyprofis zu führen. Der Weg ist steiniger als gedacht. Die Adoptiveltern lassen sich früh scheiden. Die Umstände erlauben es nicht, dass Riccarda in die Trainings oder an die Matches gefahren werden kann. Die Leidenschaft aber bleibt. Immer wieder büxt sie von zu Hause aus und sucht das Eis. Die Eltern haben Verständnis und machen den Weg frei für eine intensive Förderung.

Nach der Aufnahme im Sportgymnasium schafft Cedraschi den Sprung ins NLA-Team der EVZ-Frauen. Die Winterspiele Vancouver 2010 werden greifbar. Um ihrer Karriere die Krönung zu verpassen, meldet sie sich beim Mädchenteam der San Jose Sharks an und zieht mit der Unterstützung ihres Adoptivvaters zu ihrem eigentlichen Vater nach Kalifornien.

Amerika wird zum Albtraum

Aus dem amerikanischen Traum wird allerdings ein Albtraum. «Mein Erzeuger hat mich nicht gut behandelt. Es kam schnell einmal zum Streit. Dann hat er sich geweigert, mich in die Trainings zu fahren und hat mich vor die Tür gestellt.» Desillusioniert steht sie da. Die Arbeitserlaubnis fehlt noch, und Auto fahren kann sie auch nicht. «Das war die harte Realität», erinnert sich Cedraschi.

Versagensängste verhindern vorerst eine Rückkehr in die Schweiz. «Ich wollte nicht als Loser zurückkommen.» Südlich in Los Angeles sucht sie ein neues Zuhause, trainiert weiter und wird U13-Assistenzcoach. Die Stadt der Engel bringt sie jedoch in Teufels Küche. Es wird ihr alles zu viel. Überfordert vom Chaos und von den eigenen Ansprüchen, verliert sie den Boden unter den Füssen und frisst den Frust in sich hinein. «Ich war absolut planlos und habe angefangen, Essen in mich hineinzustopfen.»

Innerhalb von einem Jahr nimmt sie mehr als 60 Kilogramm zu – ohne es zu merken. «Selbst vor dem Spiegel habe ich es nicht wahrgenommen.» Und auch sonst hält ihr niemand den Spiegel vor. «Vielleicht bin ich in den USA nicht so aufgefallen, weil es Menschen gibt, die noch extremer sind. Aber die Leute, die mich kannten, waren sicher erschrocken. Die waren einfach alle zu anständig und haben nichts gesagt», bedauert Cedraschi. «Es wäre gut gewesen, wenn mich jemand wachgerüttelt hätte.»

Aus Hollywood wird ein Horror

Am Tiefpunkt angekommen – jung, naiv, verletzlich – findet sie einen Freund und verliebt sich in den Gedanken, früh Mutter zu werden. Sie heiratet, wird schwanger und macht nebenbei ein Studium in Business-Marketing – endlich kommt die Arbeitserlaubnis. Mit dem Testat in der Tasche taucht sie in die Traumfabrik Hollywood ein und findet einen Job als Assistentin von US-Regisseur Steve Carr, der damals den Film «Der Kaufhaus Cop» produzierte.

Abseits der Komödie entwickelt sich ihr Privatleben allerdings erneut zum Horrorfilm. In den eigenen vier Wänden kommt es zu häuslicher Gewalt, ihr Mann macht ihr das Leben zur Hölle. Später wird bei ihm ein Hirntumor diagnostiziert. «Zum Wohl des Kinds und mir zog ich die Reissleine.» Sie flüchtet zurück in die Schweiz, schämt sich für ihr Scheitern und kämpft immer noch mit ihrem Körper. «Ich habe immer wieder 30 Kilo abgenommen, aber dann gleich wieder zugelegt. Es war ein brutales Jojo.»

Eine Operation wider Willen

Vancouver 2010 schaut sie am TV, das innere olympische Feuer ist in diesem Moment längst erloschen. Gegenüber ihrem Sohn will sie trotzdem ein Vorbild sein und strebt ein unabhängiges Leben als alleinerziehende Mutter an. Sie geht mit sich und ihrer Gesundheit hart ins Gericht: «Wie lange bist du noch fit?», fragt sie sich und nimmt erstmals medizinische Hilfe in Anspruch – jedoch widerwillig. «Eigentlich wollte ich keine Operation, weil man als Sportler das ja selber schafft. Man ist ein absoluter Verlierer, wenn man es nicht schafft.»

Cedraschi ändert ihre Einstellung und findet nach dem Eingriff zurück zu ihrer früheren Figur. «Es waren harte und lehrreiche Jahre. Mein Leben ist heute wieder komplett im Gleichgewicht, und ich fühle mich sehr glücklich.» Die neue Harmonie widerspiegelt sich auch in ihrem Umfeld. Ihr Erzeuger ist zwar mittlerweile verstorben, zu ihrer leiblichen Mutter pflegt sie aber einen freundschaftlichen Austausch. Und mit den Adoptiveltern hat sie nach wie vor ein sehr inniges Verhältnis.

Der innere Frieden führt sie zurück aufs Eis – zusammen mit ihrem Sohn findet sie die Freude am Eishockey wieder. Mehrmals wöchentlich fährt sie den mittlerweile 14-jährigen Anthony ins Training und an Spiele. Sie begleitet ihn mit aller Vorsicht und bewahrt ihn vor falschem Ehrgeiz. Falls nötig, ist sie der Schutzschild für die nächste grosse Schlacht. Denn heute weiss sie: Die Jagd nach dem Puck hätte sie fast das Leben gekostet.

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Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

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