Es ist nicht das erste Mal, dass sich Sven Andrighetto auf ein Abenteuer einlässt. Als 18-Jähriger zog der Zürcher, den mancher in der Lions-Organisation als zu klein einstufte, aus, um die Eishockey-Welt zu erobern. In der kanadischen Junioren-Liga QMJHL begann er bei den Rouyn-Noranda Huskies und schaffte danach über die AHL den Sprung in die NHL.
227 Spiele bestritt der flinke und furchtlose Stürmer bei den Montréal Canadiens und Colorado Avalanche. Doch in der letzten Saison kam er beim Team aus Denver meist nur noch in einer Nebenrolle zum Zug und bekam darauf keinen Vertrag mehr.
Wie weiter? «Es gab Gespräche mit einigen NHL-Klubs. Doch ich hatte den Eindruck, dass ich da wieder nicht die Rolle bekommen hätte, die ich mir wünsche», sagt Andrighetto. Und so entschloss sich der 26-Jährige, für zwei Jahre bei Awangard Omsk zu unterschreiben. «Ich wollte eine grössere Rolle. Ich möchte Verantwortung übernehmen, ein Leader sein, auch in Über- und Unterzahl und in der letzten Minute auf dem Eis stehen, wenn das Spiel auf der Kippe steht.»
Schweizer in der KHL? Eine Seltenheit
Während bei uns mancher darüber rätselt, wie sich ein Schweizer im besten Hockey-Alter in die KHL verirrt, wird Andrighetto in Russland immer wieder gefragt, warum nicht mehr Schweizer in der zweitbesten Liga der Welt spielen. «Dann weiss ich gar nicht, was ich sagen soll», erzählt Andrighetto.
Den Grund kennt er derweil aber schon: «Wir haben es schon sehr schön in der Schweiz.» Vor ihm hatten lediglich die Goalies Paolo Della Bella (2000/01 bei Magnitogorsk) und Martin Gerber (2009/10 bei Atlant Mytischtschi) sowie der jetzige Nati-Coach Patrick Fischer (2007 bei St. Petersburg) in Russland gespielt.
Seit drei Wochen ist Andrighetto – unterbrochen von einem Kurz-Trip zum Nati-Kickoff und den Awards in Bern – in Russland. Und am Samstag reiste auch seine amerikanische Verlobte Bailey Cook an.
Dazu überreden, ihr Leben nun im fernen Russland zu verbringen, musste Andrighetto sie nicht. «Ich habe das Glück, diese Zeit mit ihr teilen zu können. Wer sonst kann in unserem Alter so etwas erleben?», sagt der Stürmer, räumt aber ein, dass sich das Paar in zwei, drei Jahren, wenn es eine Familie haben sollte, wohl nicht mehr auf das Abenteuer Russland einlassen würde.
Omsk spielt im Exil – 2700 km westlich
Begünstigt wird das Abenteuer allerdings dadurch, dass Awangard seit letzter Saison während des Stadion-Neubaus im Exil spielt: 2700 Kilometer westlich in der Balaschina-Arena vor den Toren Moskaus.
So hat Andrighetto am Freitag seine Wohnung im modernen Bezirk «Moscow City» im Zentrum der 12-Millionen-Metropole bezogen. Im gleichen Haus wohnt auch Teamkollege Nikita Scherbak, den Andrighetto aus seiner Zeit bei den Canadiens kennt.
Um in die Arena zu fahren, was im verrückten Moskauer Verkehr bis zu eineinhalb Stunden dauert, hat der Schweizer wie die meisten seiner Teamkollegen einen Chauffeur.
Finanziell dürfte der Wechsel in die KHL für Andrighetto, der zuletzt bei Colorado 1,4 Millionen Dollar pro Saison verdiente, kein Rückschritt sein. «Es ist schön, dass man Geld verdient», sagt der Zürcher nur. «Doch ich bin hier, um dazuzulernen.»
Knüppelharte Trainings
Omsk stand letzte Saison mit den neuen Fribourg-Ausländern David Desharnais und Viktor Stalberg im KHL-Final und wird von Bob Hartley trainiert. Der kanadische Schleifer prüfte 2011/12 den Härtegrad der ZSC Lions und wurde nach Anfangsschwierigkeiten mit den Zürchern Meister.
Dass Hartley, wie es schon der Name vermuten lässt, hart ist, stört Andrighetto nicht. «Ich finde ihn sehr gut. Er ist hart, aber fair. Von ihm kann ich viel lernen.»
Die ersten Trainings setzten ihm allerdings zu. Sie waren knüppelhart. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt der WM-Silberheld von 2018. «Doch dafür werden wir bereit sein, wenn die Saison am 1. September beginnt.»
Das Team stand morgens und nachmittags auf dem Eis, und dazwischen gab es noch eine Schicht im Kraftraum. «Ich war am Abend sehr müde und habe wie ein Engel geschlafen.»
Letzte Woche spielte Awangard dann ein Turnier in der Olympia-Stadt Sotschi, während es draussen am Strand 30 Grad war. An das russische Leben und die fremde Sprache muss sich Andrighetto noch gewöhnen. «Es sprechen weniger Leute Englisch, als ich dachte», sagt der Schweizer Hockey-Abenteurer, der sich mit Hilfe einer App und mit Händen und Füssen zu verständigen versucht.
An vieles wird sich der Schweizer bei seinem Abenteuer noch gewöhnen müssen. Sorgen macht er sich deswegen aber keine.