Als Matthias Sempach und sein Bruder Stefan am Flughafen in Minneapolis ankommen, staunt der Schwingerkönig von 2013 in Burgdorf nicht schlecht: Plötzlich steht Nino Niederreiter vor ihm und nimmt die Gäste aus der Heimat höchstpersönlich in Empfang. Der Star der Minnesota Wild macht gleich den Chauffeur.
In seinem weissen Mercedes geht es ab nach Minneapolis Downtown, wo der 24-Jährige im 16. Stock des mondänen «Ivy Hotel» in einem 170 Quadratmeter-Apartment wohnt. Einen Parkplatz braucht Niederreiter nicht zu suchen. Beim Eingang übernimmt der Parkier-Service die Schlüssel des NHL-Stürmers, der diese Saison 3,5 Millionen Franken verdient, entgegen.
Für sechs Nächte quartiert «El Niño» die Emmentaler Brüder in seiner Wohnung ein. Die Idee entwickelte sich, als Niederreiter und Sempach im Vorfeld des Eidgenössischen in Estavayer im letzten Sommer gemeinsam für eine BLICK-Serie in Romanshorn aufs Eis gingen. «Ich sehe, du bist eher Schütze als Läufer», hatte der Eishockey-Profi den Schwinger damals aufgezogen, ehe er ihn zu sich in die USA einlud.
Und so treffen sich die beiden Modellathleten – Nino misst 1,88 Meter und wiegt 95 Kilo, «Mättu» gar 1,94 und 110 – in Niederreiters zweiter Heimat. Und was macht man als gelernter Landwirt und Metzger, wenn man in den USA ist? Man gönnt sich gleich am ersten Abend ein schönes Steak. Die Sportler geben sich mit einem 10-Unzen-Stück (283 Gramm) zufrieden.
Kämpfertyp Niederreiter hat einen Narren am Schwingsport gefressen. Ihm gefällt es, wenn die Kolosse aufeinander losgehen und sich ins Sägemehl wuchten. «Ich war in diesem Jahr in Estavayer und auch sonst an einigen Schwingfesten», sagt der Churer. «Es ist wirklich eindrücklich, wie stark sie ziehen.» Und Sempach ist Hockey-Fan. Er drückt als Emmentaler natürlich den SCL Tigers die Daumen – wenn es geht, auch ab und zu vor Ort in der Ilfis-Halle. Auch die NHL, wo es noch härter zu und her geht, hat es dem 30-Jährigen angetan.
Bereits am zweiten Tag kommt er voll auf seine Kosten. Ninos Wild spielen gegen die Calgary Flames. Nachdem der Flügel am Morgen ins Warm-up geht und sich danach zu Hause kurz aufs Ohr legt, geht es um 16 Uhr ab in die Zwillingsstadt von Minneapolis nach Saint Paul, wo Minnesota seine Spiele im Excel Energy Center austrägt. Niederreiter gibt bei der 20-minütigen Fahrt wieder den Chauffeur. Die Sempach-Brüder erhalten von Niederreiter einen Pass, mit dem sie nach dem Spiel Zutritt in die Familien-Zone neben der Kabine haben.
Niederreiter reibt sich vor dem Tor auf. Er zieht die Gegner auf sich, kämpft um jeden Zentimeter. Wie einst der Legende nach Arnold Winkelried 1386 in der Schlacht bei Sempach gegen die Habsburger. Doch der Einsatz unseres Hockey-Winkelried wird nicht belohnt: Minnesota verliert 0:1.
Auch im zweiten Spiel vor den Augen der Berner Brüder, vor dem «Mättu» drei Tore seines Gastgebers prophezeit, geht der Hockey-Winkelried leer aus. Immerhin gewinnen die Wild diesmal – 1:0 gegen Boston. Im dritten Anlauf (2:3 gegen Colorado) sehen die Sempachs mehr Tore, aber immer noch keines von Nino. Der trifft dann erst, als «Mättu» wieder nach Hause nach Alchenstorf BE zurückgereist ist. Zu seiner Lebensgefährtin Heidi Jenny, die im Frühling das zweite Kind erwartet, und zu Söhnchen Henry (bald 2) …
Dennoch gefällt Sempach, was er zu sehen bekommt. «Das ist extrem eindrücklich. Schon nur das Stadion mit über 19'000 Zuschauern. Dazu kommt der Sport – der beste auf der ganzen Welt», sagt er. Und der Vergleich zur Hockey-Kost in Langnau? «Ich glaube, ich darf schon sagen: Das Niveau ist doch ein wenig höher», antwortet er schmunzelnd. «Dazu ist das Eisfeld kleiner. Die Stimmung ist eher zurückhaltend. In den Schweizer Stadien ist es lauter. Was mir nicht so passt, sind die langen Unterbrüche während des Spiels für die Werbe-Blöcke. Dafür kommt hier alle fünf Minuten einer vorbei, der T-Shirts oder Fan-Artikel verkauft. Das würde mir auch in der Schweiz gefallen.»
Nach dem Sieg gegen Boston führt Nino seine Gäste in die Garderobe, stellt sie dem finnischen Captain Mikko Koivu vor, zeigt ihnen die Anlagen, inklusive Röntgenapparat gleich vor Ort. Sempach ist beeindruckt. Es ist eine ganz andere Welt als jene der Schwinger, in der eine Schulhaus-Kabine mit Dusche oft das höchste der Gefühle ist.
Wer denkt, dass der Emmentaler Schwinger mit weit aufgerissenen Augen staunend durch die 400'000-Einwohner-City am Ufer des Mississippi geht, täuscht sich. Sempach, der 2010 in Kanada und 2012 schon einmal in Florida war, fühlt sich in den USA wohl. Auch wenn er noch nicht fliessend Englisch spricht.
Hätte er sich auch vorstellen können, schon als Teenager in die weite Welt auszuziehen? «Ich denke, wenn man seinen Sport so liebt wie Nino, dann nimmt man das in Kauf», sagt der Schwingerkönig. «Und man muss natürlich schon sehen, die USA bieten einem sehr viel. Es ist ein sehr schönes Land und die Möglichkeiten sind fast grenzenlos. Das hätte ich mir sicher vorstellen können.»
Als Niederreiter einen ganzen Tag frei hat, schlüpft er in die Rolle des Fremdenführers. Der Tag beginnt mit einem deftigen amerikanischen Frühstück im «Keys», wo sich ab und zu Wild-Spieler tummeln. «Mättu» gönnt sich Pancakes, viel Speck, Spiegeleier und Joghurt. Auch wenn er während seines US-Trips nur zweimal in den Kraftraum geht, braucht der Körper des Athleten, der zwei Wochen davor das Training wieder aufgenommen hat, Brennstoff.
Bei Ninos Spiel zeigt sich das Kind im Manne
Nino zeigt seinen Gästen die Stone Arch Bridge über dem Mississippi und fährt mit ihnen zum Lake Calhoun in der Nähe von Minneapolis. Dort lässt er sich am Strand auch den «Sempach Spezial» zeigen. Die beiden Brocken greifen sich am Hosenbund, dann zieht der Emmentaler, allerdings ohne den Hockey-Profi in den Sand zu donnern.
Niederreiter nimmt die Brüder auch zur Kältekammer mit. «Das ist hervorragend für die Erholung und tut mir wirklich gut. Im ersten Moment ist es etwas kalt, aber danach wirklich angenehm», sagt der ehemalige Heizungsmonteur-Stift. Auch Sempach wagt sich in die Kammer, ohne mit der Wimper zu zucken. Und er findet seinen Gefallen daran. «Das war das erste Mal und sehr eindrücklich für mich. Darin war es minus 140 Grad.»
Die Idee, eine Kältekammer auch in der Heimat zu nutzen, nimmt Sempach mit nach Hause. Spass macht ihm auch das Shuffle-Board-Spiel in Ninos Wohnung, bei dem man auf einem Holztisch etwas Ähnliches wie Boggia oder Curling spielt. Auch wenn er in den zahlreichen Duellen mit dem Hausherrn nur einmal gewinnt.
«Vielleicht werde ich mir zu Hause auch so einen Tisch anschaffen. Es ist wirklich ein lustiges Spiel», sagt er. Der Schwinger geht dabei nicht ganz so verbissen wie Niederreiter zur Sache. Beim Churer, der auch ein leidenschaftlicher Jasser ist, kommt in jedem Spiel das Kind im Manne zum Vorschein.