Herr Genoni, Torhütern wird ja oft nachgesagt, sie seien etwas verrückt ...
Leonardo Genoni: ... ich bin es aber nicht!
Haben Sie keine Macken?
Nein, aber Routinen. Vor jedem Spiel fahre ich zwischen den Torpfosten hin und her. Und zwar nach einem bestimmten Ablauf. Ich glaube, ich klopfe mit dem Stock einmal rechts, einmal links und schliesslich noch dreimal vor mir aufs Eis. Mein erster Goalie-Trainer bei den Bambini meinte, ich sollte mir etwas aneignen, um stets bereit zu sein.
Für Ihre Teamkollegen sind Sie der Roger Federer des Schweizer Hockeys. Damit Ihnen nichts zustösst, machen die Spieler beim Schlittelplausch jeweils einen weiten Bogen um Sie.
Stimmt, aber das könnte auch heissen, dass ich schlecht schlittle (lacht). Im Ernst: Ich bin halt jemand, der sich aufs Wesentliche konzentriert, sich an die Regeln hält. Ich kann auch nicht nach einem Meistertitel eine Woche durchfeiern, bin nach eineinhalb Tagen kaputt. Ich war nie ein Partygänger. Doch auch ich war einmal jung und machte Unsinn.
Sie machten Unsinn?
Nein, eigentlich nicht. Ich bin anständig.
Würden Sie sich selbst als Musterprofi bezeichnen?
Ich machte einen Wandel durch. Als Junior hatte ich das Glück, dass ich es mit meinem Talent bis in die NLB schaffte. Dass man auch arbeiten muss, lernte ich erst später. Ich war nicht von Beginn an ein Musterprofi.
Sie sagten einst, Ihnen hätte der Ansporn gefehlt.
Ich hatte es zu leicht. Bei den GCK Lions sagte man mir, ich sollte mehr tun. Doch wirklich realisiert habe ich das erst in Davos, als ich sah, welch grossen Rückstand ich hatte. Ich war auch körperlich nicht so weit wie gleichaltrige Spieler. Es war aber auch eine andere Zeit.
Wie meinen Sie das?
Ich war mit 15 Jahren erstmals im Kraftraum. Komme ich heute frühmorgens ins Stadion, stemmen die 12- bis 14-Jährigen schon Gewichte. Und ich heisse nicht Martin Plüss und erscheine erst um neun Uhr in der Garderobe (lacht).
Dafür machen die Spieler Sprüche über Sie, weil Sie stets mit einer Skimütze ins Flugzeug steigen.
Ich weiss, es sieht doof aus. Aber jetzt sagt keiner mehr etwas. Ich flog dreimal mit dem HCD an ein Champions-League-Spiel und war anschliessend dreimal krank. Jetzt ziehe ich immer Jacke, Schal und Kappe an. Was ich kann, versuche ich zu kontrollieren.
Sie tragen Hörgeräte. Wie kam es dazu?
Das geschah noch bei den GCK Lions. In einem Spiel gegen Ajoie fuhr mich jemand um. Ich erlitt eine schwere Gehirnerschütterung, konnte drei Monate nicht mehr spielen. Es ging mir wirklich schlecht. Ich hatte Kopf- und Nackenschmerzen, sass tatenlos zu Hause rum.
Wie gings weiter?
Eigentlich verheilte alles gut. Bis auf das Gehör. Das ist seither geschädigt.
Merkten Sie sofort, dass Sie schlechter hören?
Ich merkte, dass ich zwei-, dreimal nachfragen muss, habe mir aber nichts weiter gedacht. Nun realisiere ich, wie viel Qualität ich eingebüsst habe. Jetzt höre ich die Vögel wieder zwitschern.
Seit wann tragen Sie Hörgeräte?
Erst seit zwei Jahren. Vielleicht wollte ich es mir vorher auch nicht eingestehen. Man ist 20. Da kann es doch nicht sein, dass man nicht mehr einwandfrei hört. Nun bereue ich es, dass ich nicht schon früher reagiert habe.
Vielleicht hatte es mit Stolz zu tun.
Möglich. Doch wie viele Leute tragen eine Brille! Das sind ja bloss Hilfen, damit es dir besser geht. Man glaubt kaum, wie viel so ein Hörgerät bringt.
Was gab schliesslich den Ausschlag?
Als meine Frau nicht zu Hause war und ich nachts meine Kinder nicht mehr weinen hörte. Es ging so lange, bis ein Nachbar an der Türe klingelte. Das Schlimmste war, als mich mein Sohn hinterher fragte, weshalb ich nicht reagiert habe. Da machst du dir schon Gedanken. Jetzt weiss ich: Ich höre nur noch 40 Prozent.
Stimmt es eigentlich, dass Sie bloss Torhüter wurden, weil Sie nicht gut Schlittschuh laufen konnten?
Ich war einfach der stärkste Goalie. Dabei waren die Tore bloss 30 Zentimeter hoch. Und ich lag immer am Boden. Aber es stimmt: Kürzlich war ich mit meiner Familie Schlittschuh laufen, trug dabei die gewöhnlichen Spielerschuhe. Das war nicht ohne.
Es heisst, man habe Ihnen damals geraten, mit dem Sport aufzuhören.
Nein, so wars nicht. Ich war lange auch Feldspieler, aber eine Riesen-Pfeife. Ich fiel oft hin. Da ich vom Alter her nicht mehr in einer tieferen Kategorie spielen konnte, hat es sich dann praktisch von selbst ergeben.
Sie verbrachten die ersten drei Jahre Ihres Lebens im Tessin. Haben Sie noch Erinnerungen
an jene Zeit?
Nein, ich verlernte später auch die italienische Sprache, wählte sie aber in der Schule als Freifach – und schrieb schliesslich meine Maturarbeit auf Italienisch.
Sie waren Ambri-Fan?
Wie die ganze Familie. Etwa zwei Mal pro Jahr reisten wir an ein Spiel. Ich hatte ein Trikot von Stürmer Dmitri Kwartalnow. Dazu einen Stock von Juri Leonow.
Sie sind schliesslich in Kilchberg am Zürichsee aufgewachsen. Ihre Familie lebt noch immer dort. Wann kehren Sie nach Zürich zurück?
(lacht laut) Um zu spielen? Ich weiss nicht, ob ich jemals beim ZSC spielen werde. Ich habe in Bern einen Vertrag bis 2019 und bin erstaunt, dass die Diskussionen um meine Zukunft so früh entfacht sind.
Verträge werden immer früher abgeschlossen. Und Sie sind der stärkste Goalie der Liga.
Ich führte schon Gespräche mit Sportchef Alex Chatelain und habe weitere Verabredungen mit ihm.
Chatelain wollte ja schon im Herbst verlängern.
Mir gefällts in Bern. Wir sind erfolgreich. Und mein Sohn Giulien hat viel Spass im Kindergarten. Vieles stimmt. Es gibt noch zwei, drei Dinge zu klären.
Geht es um Geld? Sie könnten eine siebenstellige Summe verlangen.
Nein, nein! So weit sind wir im Hockey noch nicht.
Noch nicht!
Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir jemand ein solches Salär zahlen würde.
Wie wichtig ist Ihnen Geld?
Es gibt Sicherheit. Insbesondere mit einer Familie. Ich wurde im September zum dritten Mal Vater. Zudem kann ich mir ein Studium finanzieren. Sicher gibt es Wichtigeres als Geld. Das war für mich nie eine Motivation, um Eishockey zu spielen.
Sie stammen auch aus gutem Haus.
Meine Eltern haben viel gearbeitet und uns Kindern ermöglicht, Eishockey zu spielen. Unsere Mutter fuhr uns jahrelang umher, weil es zu dieser Zeit noch kein Eisfeld am linken Zürichsee-Ufer gab. Zudem wurden wir gut erzogen. Ich würde Sie mit Freude zum Essen einladen.
Vielen Dank. Vielleicht ein andermal. Was ist aus Ihren Brüdern geworden?
Beide mussten wegen Verletzungen aufhören. Gaetano machte den Doktortitel in Jus. Tiziano studiert Wirtschaft.
Sie selbst haben auch immer studiert, sind nun am Master in Business Administration.Meine Eltern wollten, dass ich mich im ersten Jahr in Davos im Profihockey zu etablieren versuche, dann aber noch etwas mache nebenbei. Ich merkte selbst, dass mich der Sport nicht ausfüllt. Ich besass zwar eine Spielkonsole, doch die Playstation erfüllte mich nicht.
Ihr Vater ist Herzchirurg. Hatten Sie nie Interesse an einem Medizinstudium?
An einem Vater-Sohn-Tag merkte ich schnell, dass ich nie Arzt werden möchte. Ich kann kein Blut sehen, habe auch Mühe, mich impfen zu lassen.
Wie bringen Sie Hockey, Familie und Studium unter einen Hut?
So viel Zeit geht nicht drauf. Ich nutze die Carfahrten fürs Studium. Und ich habe eine starke Frau geheiratet. Sie hält mir den Rücken frei und gibt mir manchmal einen kinderfreien Nachmittag.
Wie gross sind die sozialen und bildungsmässigen Unterschiede in einem Team?
Sie sind sicher vorhanden, auffälliger aber sind die Altersunterschiede. Es sind Menschen an unterschiedlichen Orten ihres Lebens. Einige haben Kinder. Andere können sich das nicht einmal vorstellen. Beim SCB machen viele eine Ausbildung. Wer darauf verzichtet, merkt irgendwann selbst, dass seine Karriere nicht unendlich dauern wird.
Schotten Sie sich in den Playoffs wieder ab?
Ja, ich gebe keine Interviews.
Weshalb?
Ein Trainer in den Bündner Bergen hat das einst durchgesetzt. Es hat sich bewährt. Und es gibt ja auch spannendere Gesprächspartner.
Würden Interviews Sie ablenken?
Nein, für mich ändert sich in den Playoffs nicht viel. Ich lese auch Zeitung. Als Spitzensportler musst du mit Kritik und Druck umgehen können. Sonst hast du hier nichts zu suchen.
Haben Sie Olympia verdaut?
Sicher, ziemlich schnell sogar. Ich wusste, dass meine Leistung nicht stimmte. Ich war nicht bereit, habe versagt. Dass ich nach der Auswechslung im ersten Spiel nicht mehr zum Zug kam, war zwar bitter, doch ein Zeichen dafür, dass Jonas Hiller gut gespielt hat. Ich konnte die Saison nicht abhaken. Jetzt folgen die Playoffs. Wir haben einiges gutzumachen.
Reisen Sie im Mai an die WM?
Ja, ich fühle mich fit genug. Aber ich muss besser spielen. Sonst reicht es nicht.
Mannschaft | SP | TD | PT | ||
---|---|---|---|---|---|
1 | ZSC Lions | 19 | 19 | 40 | |
2 | HC Davos | 21 | 21 | 40 | |
3 | Lausanne HC | 21 | 8 | 40 | |
4 | SC Bern | 22 | 15 | 36 | |
5 | EHC Kloten | 21 | 2 | 33 | |
6 | EV Zug | 21 | 14 | 33 | |
7 | EHC Biel | 21 | 0 | 32 | |
8 | SC Rapperswil-Jona Lakers | 21 | -4 | 31 | |
9 | HC Fribourg-Gottéron | 21 | -9 | 27 | |
10 | SCL Tigers | 19 | -3 | 25 | |
11 | HC Lugano | 19 | -13 | 25 | |
12 | HC Ambri-Piotta | 19 | -12 | 24 | |
13 | Genève-Servette HC | 17 | -3 | 22 | |
14 | HC Ajoie | 20 | -35 | 15 |