BLICK: Gates Orlando, wann haben Sie Nico Hischier das erste Mal spielen sehen?
Das weiss ich noch ganz genau: Letztes Jahr an der U18-WM in Grand Forks (USA). Er war jünger als alle anderen und trotzdem wusste ich sofort, dass er ein ganz besonderer Spieler ist. Ich bin überhaupt nicht überrascht, dass er mittlerweile im Rennen um die Nummer 1 ist.
Wie würden Sie ihn als Spieler beschreiben?
Er hat einen Hockey-IQ auf Elitelevel, ist offensiv sicher stärker als defensiv. Ich sehe ihn als jemanden, der den Unterschied ausmachen kann. Er hat enormen Kampfgeist und eine hervorragende Einstellung.
Im letzten Jahr ist Hischier durchs Dach gegangen, gilt mittlerweile als möglicher Nummer-1-Pick.
Ja, er hat in Kanada ein starkes Jahr gehabt. Obwohl er alleine in ein fremdes Land gekommen ist und die Sprache lernen musste, hat er die Liga dominiert. Und er ist immer noch besser geworden.
Hätte er noch mehr machen können, um seine Draft-Aussichten zu verbessern?
Ich glaube nicht. Er hat bei Halifax in einem schwachen Team gespielt und trotzdem die Liga dominiert. Und dann kommt er im Dezember an die U20-WM und spielt gegen drei Jahre ältere Gegner gross auf!
Da wurden dann alle auf ihn aufmerksam…
Mittlerweile muss man ja sagen, dass es für Nico normal ist, auch ältere Gegner an die Wand zu spielen. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, wir wissen, dass er eigentlich nie mit seinen Altersgenossen gespielt hat, sondern immer mit älteren. Für ihn ist es schon gar keine grosse Sache mehr.
Zuletzt wurde viel über Hischiers Fortschritte in der Defensive gesprochen. Wie sehen Sie diese?
Es gibt nicht viele 17- und 18-Jährige, die wirklich wissen, wie man in der Defensive richtig spielt. Das kümmert uns ehrlich gesagt auch nicht, das regelt sich von alleine. Wir denken, dass Hischier ein guter Defensivspieler ist, der sicher noch besser werden kann. Und das wird er auch, wenn er reifer wird und seine Identität als Spieler entwickelt. Eines kann ich aber mit Sicherheit sagen: Wir werden Nico Hischier im Draft sicher nicht übergehen, weil seine Defensive nicht gut genug ist. Das wäre, als ob man Connor McDavid nicht nehmen würde, weil er eine schlechte Plus-/Minus-Bilanz hat.
Wie wichtig ist die Plus-/Minus-Statistik für Sie als Scout?
Überhaupt nicht. Es ist eine Frage des Kontexts. Ein Junge wie Nico Hischier, der in einem schwachen Team spielt, hat es schwerer, auf eine gute Plus-Minus-Statistik zu kommen. Wir schauen einfach genauer hin, wenn in einem Team alle +40 sind und einer -6. Da stellt man dann schon Fragen.
Wie wichtig sind Statistiken im Juniorenalter?
Nicht unerheblich. Wenn jemand wie Nico auf jeder Juniorenstufe seine Tore schiesst, ist die Chance gross, dass er es auch bei den Profis tut.
Wie oft haben Sie Hischier in den letzten Jahren spielen sehen?
Sicher zehnmal.
Sie sind der Vize des Scouting-Direktors, kommen damit relativ spät ins Spiel.
Ja, wir haben unsere Scouts, die die Spieler in den Ligen beobachten und dann Empfehlungen abgeben. Bei einem Spieler wie Nico haben am Schluss sicher neun, zehn Leute draufgeschaut. Und dann wird diskutiert, es sind nicht immer alle gleicher Meinung, aber wenn neun von zehn etwas gleich sehen, sagt das etwas aus.
Wie oft passiert es, dass sich alle in der Scoutingabteilung einig sind?
Nicht sehr oft. Es ist keine exakte Wissenschaft und es gibt auch nicht so viele Spieler, die so herausragend sind.
Wer waren die letzten von diesem Kaliber?
Letztes Jahr Auston Matthews und Patrik Laine, das Jahr vorher Connor McDavid und Jack Eichel.
Das waren zwei starke Draft-Jahrgänge. Wie stufen Sie den aktuellen ein?
Ein bisschen schwächer. Es sind keine Jahrhunderttalente dabei wie McDavid. Aber Spieler wie Hischier, Patrick, Heiskanen, Makar, Vilardi sind zurecht so hoch eingestuft. Das sind alles starke Hockeyspieler, die in der NHL ihren Weg machen werden.
Sie galten in Ihrer Zeit in der Schweiz als absoluter Leader. Wie wichtig sind Führungsqualitäten im Juniorenalter für Sie?
Extrem. Für mich steht das ganz oben auf der Anforderungsliste. Man sieht das, auf und neben dem Eis. Was mich angeht: Ob ich ein guter Leader war, müssen andere entscheiden. Ich wollte einfach immer Kämpfen. Das sieht man bei einem Spieler, wenn er auf dem Eis steht. Und Nico bringt das mit, definitiv.
Vor dem Draft werden die Talente richtiggehend durchleuchtet.
Wir fragen Teamkollegen, Gegner, Freunde, um herauszufinden, wie die Spieler ticken. Wir investieren viel, über Nico haben wir locker mit 10 bis 15 Leuten gesprochen.
Im Gegensatz zu Führungsqualitäten sind Grösse und Gewicht eindeutig messbar. Hat Hischier physisch NHL-Format?
Er ist nicht klein (1,84 m, 82 Kilo, d. Red.) und er wird körperlich noch zulegen. Ausserdem hat sich das Spiel ja auch verändert. Im Vergleich zu früher sind andere Qualitäten viel wichtiger als Grösse und Gewicht. Sehen Sie sich die Pittsburgh Penguins an: Die haben gerade den NHL-Titel verteidigt und sind eher klein und schnell als furchteinflössend.
Sie waren mit 1,75 m für einen Hockeyspieler in der damaligen Zeit sehr klein. Wünschen Sie sich manchmal, Sie wären 25 Jahre später geboren?
(lacht) Logisch, dann wäre ich jetzt erst 25. Aber ohne Quatsch, ich bereue nichts. Es hat in Nordamerika mit der NHL-Karriere nicht so geklappt, wie man sich das vielleicht vorgestellt hat. Dann bin ich halt nach Italien gegangen. Ich habe ja nicht damit gerechnet, dass ich 12 Jahre in Europa bleiben würde. Ich hatte dann das Glück, dass Trainer Bryan Lefley mich aus Italien kannte, als ich nach Bern kam. Hier haben mich die Leute sofort akzeptiert. Aber klar, vielleicht hätte ich heute in der NHL mehr erreichen können.
Haben Sie in den letzten Jahren Spieler gescoutet, die Sie an sich als Spielertyp erinnern?
Travis Konecny von den Philadelphia Flyers. Er ist relativ klein und leicht und musste sich auch immer anhören, dass es ihm auf der nächsten Stufe wohl nicht reicht. Trotzdem hat er sich durchgesetzt.
Haben Sie als Scout ein Herz für solche Spielertypen?
Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass es nicht so ist. Wobei ich nicht alles gut finde, was mich früher ausgemacht hat: In Spielern, die eine negative Körpersprache haben, wenn sie frustriert sind, erkenne ich mich auch wieder – aber sie werden im Notizbuch trotzdem nicht positiv vermerkt.
Woran denken Sie, wenn Sie an Ihre Zeit in der Schweiz zurückdenken?
Die zwei Meistertitel vor allem. Der eine mit Bern war besonders, weil ich ihn mit Trainer Bryan Lefley und meinem Freund Bruno Zarrillo gewonnen habe. Der mit Lugano war in meinem letzten Jahr als Profi. Es war mir sehr wichtig, als Sieger aufzuhören. Und dann der Tag, als Bryan, der längst ein Freund für mich geworden war, starb (Lefley verunglückte 1997 mit dem Auto tödlich). Das war ein harter Tag.
Haben Sie mit den alten Kollegen aus der Schweiz noch Kontakt?
Sicher. Mit Sven und Lars Leuenberger zum Beispiel, Biel-Sportchef Martin Steinegger und mit Gaëtan Voisard, der jetzt ja Nico Hischiers Agent ist.
Da schliesst sich der Kreis. Uns können Sie es ja sagen: Werden Sie Nico Hischier als Nummer 1 draften?
(lacht) Das werde ich Ihnen nicht verraten, ich entscheide es ja auch nicht alleine. Aber sicher ist: Ich wäre geschockt, wenn Nico nicht der am höchsten gedraftete Schweizer der Geschichte würde.
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Gates Orlando (54)
Stürmer Orlando kam 1994 aus Italien zum SCB und wurde 1997 mit Bern und 99 mit Lugano Meister. In der Schweiz wegen seinem unbändigen Einsatzwillen und seinen Skorerqualitäten von den Fans geliebt, konnte sich der 1,75 m kleine Italokanadier in der NL nie richtig durchsetzen. Seit 2002 arbeitet er für die Organisation der New Jersey Devils, ist mittlerweile die rechte Hand von Ober-Scout Paul Castron. Orlando erlitt 2012 einen Herzstillstand, musste mit einem künstlichen Herzen am Leben erhalten werden und lebt heute mit einem Spenderherz. «Ich bin gesund, die Werte der medizinischen Tests sind in bester Ordnung», sagt er in Chicago und lacht. «Ich bin einfach dick geworden.»