Die Stimmung im Schnellzug von New York nach Philadelphia ist richtig heimelig. Der Stucki Chrigu (29) hat es sich in einem bequemen Ledersessel im Business-Abteil gemütlich gemacht. Er klopft mit den SonntagsBlick-Reportern einen Jass.
Nach einer Fahrzeit von einer Stunde und 20 Minuten werden die Trümpfe im Rucksack verstaut. Aus dem Lautsprecher ertönt die Ansage: «Next Stop Philadelphia.» In der 1,5-Millionen-Stadt am Delaware-River will der Überschwinger aus dem Seeland seinen Stadtberner Freund Mark Streit (36) besuchen.
Kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof meldet sich Streit per SMS: «Ich habe dir für das Spiel von heute Abend gegen Minnesota ein Ticket und einen Pass für unsere Garderobe im Will Call hinterlegt. Ich freue mich auf dich, lg: Streiti.»
Stucki, der am Vorabend Streits 0:2-Niederlage der Flyers im Madison Square Garden gegen die New York Rangers live gesehen hat, schwärmt: «Mark ist einfach ein super Typ. Als wir uns im Sommer 2011 in Bern im Ausgang erstmals über den Weg gelaufen sind, habe nicht ich ihn angesprochen. Er war es, der auf enorm sympathische Art auf mich zugekommen ist. Streiti ist ein bodenständiger Berner Giel geblieben. Obwohl er ein grosser NHL-Star ist.»
Im Wells Fargo Center, der Heimstätte der Flyers, avanciert aber auch der vierfache Eidgenosse ganz schnell zu einer sehr gefragten Persönlichkeit. Stucki sitzt in der sechsten Reihe der edlen Klub-Box, in der sonst vor allem Spielerfrauen und Sponsoren Platz nehmen. Und die fragen jetzt, wer dieser gigantische Typ ist, für den selbst ein Stuhl in dieser geräumigen Loge noch zu klein geraten ist.
Die Englischkenntnisse des 28-fachen Kranzfestsiegers verdienen bei weitem nicht die Maximalnote zehn. Trotzdem schlägt sich der intelligente «Böse» bei der Beantwortung der Fragen der Einheimischen tapfer.
Ein Trikot für Stucki
Einem besonders interessierten Flyers-Fan zeigt er auf seinem iPhone ein Video vom Schwarzsee-Schwinget. Er verkauft den Amis zwar das kleine «Seeli» im Freiburgerland als «Black Sea» (Schwarzes Meer), wo doch «Black Lake» besser gepasst hätte. Aber so richtig ins Schwimmen kommt der gelernte Forstwart, erst als er die Kampfunterlage eines «Swiss Wrestlers» erklären will.
«Was heisst wohl Sägemehl auf Englisch?», fragt sich Chrigu mit richtig dicken Schweissperlen auf der Stirne. Der Internet-Übersetzer gibt «Sawdust» an, mit dieser Antwort geben sich Stuckis neue US-Friends dann auch zufrieden.
Weniger zufrieden ist an diesem Abend sein Buddy Mark Streit. Obwohl er nach dem 1:0 von Nati-Kollege Nino Niederreiter den zwischenzeitlichen Ausgleich erzielt und zum drittbesten Mann des Spiels gewählt wird, verlieren die Flyers 2:3.
Aber als sein gewichtiger Kumpel aus der Schweiz eine Viertelstunde nach der Schlusssirene in der Garderobe auftaucht, strahlt Streit übers ganze Gesicht. «Hey Chrigu, so schön, dass du da bist.»
Mark überreicht seinem «Big Brother» sein Flyers-Trikot mit der Nummer 32 und führt ihn dann durch die Garderobe. Stucki ist überwältigt: «Das ist ja riesig hier. Bei Schwingfesten teile ich mir manchmal mit 170 anderen Teilnehmern eine Garderobe, die kleiner ist als diese hier.»
Der Kilchberg-Sieger von 2008 ist noch beeindruckter, als er mit seiner Reisetasche in Streits rund 190 Quadratmeter grosses Appartement in der Innenstadt einzieht. «Seine Wohnung befindet sich im 26. Stock, von wo er eine atemberaubende Aussicht auf die Skyline geniesst. Jetzt kann ich erstmals nachvollziehen, warum sich Mark in dieser Stadt so wohl fühlt.»
Gleichzeitig macht sich unser Eishockey-Held ein bisschen Sorgen um seinen «bösen» Gast: «Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mein Gästebett für Chrigu genug lang und breit ist!» Doch der 150 kg schwere, 198 cm grosse Gigant gibt nach der ersten Nacht Entwarnung: «I ha absolut göttlich pfüselet!»
So richtig ins Träumen geraten die beiden Kumpel erst nach dem Frühstücks-Espresso in Marks Stamm-Café «La Colombia», als sie bei der Sightseeing-Tour durch Philadelphia bei den «Rocky Steps» unterhalb des Kunstmuseums eintreffen. Hier hat Rocky Balboa alias Sylvester Stallone in seinen Box-Kultfilmen seine berühmten Treppenläufe gemacht.
«Diese Filme haben mich definitiv inspiriert», erzählt Mark. «Rocky hat mir gezeigt, was man mit Kampfgeist und Nehmerqualitäten im Leben alles erreichen kann. Deshalb läuft es mir immer wieder kalt den Rücken hinunter, wenn ich vor einem Match die Rocky-Hymne ‹Eye oft the Tiger› höre. Dieser Song gibt mir vor einem Spiel den letzten Kick.»
Auch der grosse Christian schwelgt jetzt in Kindheitserinnerungen: «Ich habe alle sechs Rocky-Streifen mehrmals gesehen. So ist es für mich ein ganz besonderes Erlebnis, dass ich nun selber hier stehen darf.»
Nach diesen Rocky-Gedächtnisminuten geht es runter in die Altstadt. «Äs isch würklich ganz geil hiä», schwärmt Stucki beim Blick auf ein historisches Backsteinhaus. Streit nickt: «Die Vorstadt Camden gehört zwar zu den gefährlichsten Gegenden Nordamerikas. Aber in der Innen- und Altstadt ist die Lebensqualität wirklich sehr hoch. Die Leute sind sehr hilfsbereit. Das ist etwas, was ich manchmal vermisse, wenn ich die Sommermonate in der Schweiz verbringe.» Stucki gibt Streit recht: «Die Gasfreundschaft hier ist wirklich sehr viel grösser als bei uns.»
Austern wie «Choder»
Nicht immer ganz einig sind sich Mark und Chrigu, wenn es ums Essen geht. Streit hätte jetzt Lust auf Sushi. Doch das lehnt Stucki aus naturbewussten Überlegungen ab. «Sushi wird aus vom Aussterben bedrohten Tieren wie zum Beispiel dem Gelbflossen-Thunfisch hergestellt. Darum verzichte ich lieber auf eine solche Speise.»
Aus geschmacklichen Gründen ist Chrigu gegen einen Austern-Schmaus: «Austern schmecken für mich ungefähr so, wie wenn ich in meinem Hals einen ‹Choder› hochziehe und dann wieder schlucke ...»
Die beiden Herren einigen sich auf ein Steakhouse. Hier verspeist Stucki neben seinem rund 400 Gramm schweren, «medium rare» gebratenen Rib Eye Steak keine fettigen Beilagen, sondern gesunde Spargeln. «Ich möchte im Hinblick auf die nächste Schwingsaison ein paar Kilo abnehmen.»
Auch Mark nimmt heute weniger Kalorien zu sich: «Als ich 2013 von New York nach Philadelphia gewechselt bin, habe ich 93 Kilo auf die Waage gebracht. Jetzt sind es nur noch 86. Das Spiel in der NHL hat sich verändert, die Masse ist heute nicht mehr so wichtig wie Beweglichkeit und Spritzigkeit.»
Einen Tag vor der Rückreise in die Schweiz erlebt Stucki seinen Freund von der besonders spritzigen Seite – der Verteidiger erzielt beim 4:2-Heimsieg gegen die Columbus Blue Jackets das 2:1.
In der Zwischenzeit ist Stucki wieder daheim in Lyss bei seiner Lebensgefährtin Cécile und dem bald zweijährigen Sohn Xavier angekommen. Für ihn steht schon jetzt fest: «Ich war nicht das letzte Mal bei Mark in den USA.»
Vorher wird Mark den Chrigu aber einmal mehr vom Sägemehlrand anfeuern – Streit zieht im kommenden Sommer den Besuch des traditionellen Schwägalp- oder Brünig-Schwingets in Erwägung.