Ein steiler Blick hinauf zu den Wolkenkratzern genügt. Geblendet von der Sonne und den blinkenden Bildschirmen kneift Patrick Fischer die Augen zusammen. Am liebsten würde er sich auch die Ohren zuhalten. Treffpunkt mit dem Fotografen ist der Times Square in New York. Dort, wo täglich Tausende von Touristen in den tiefen Häuserschluchten ein Hochgefühl erleben, kommt sich Fischer bei all dem Lärm und den vielen Leuten wie ein Fremdkörper vor. «Hier sind doch einige Grenzen überschritten worden», sagt Fischer, «ich bin nicht so ein Fan von grossen Städten und so viel Getümmel, da fühle ich mich bei uns zu Hause schon viel wohler.» Für die Kamera blendet der Patriot jedoch den Rummel am Broadway aus und posiert an diesem frühlingshaften Sonntag Anfang März mit dem Schweizerkreuz auf dem Anzug. «Mein Fokus liegt voll auf der Nati. Ich fühle mich extrem wohl, und wir haben grosse Ziele.»
Wie wohl es dabei auch dem Umfeld ist, widerspiegelt sich auch in den Resultaten. Bereits im November setzte sein Team mit dem Triumph am Deutschland-Cup in Krefeld das erste Zeichen. Es war der erste Turniersieg der Eisgenossen seit 13 Jahren. Nur einen Monat später doppelte die Truppe von Fischer nach und gewann am Ende mit einem 8:2 gegen Russland auch das Heimturnier in Visp.
Fischer und das Wolfsrudel
Das Kribbeln nach dem gelungenen Start in die Mission Heim-WM konservierte der 44-jährige Zuger auch über Neujahr. Im Januar teilte er in seiner Heimat im Schulhaus Herti seine Erinnerungen an die eigene Kindheit und bescherte den vielen Schülern mit WM-Maskottchen Cooly einen unvergesslichen Tag.
Die BLICK-Kamera verfolgte Fischer auch im Februar, als er in Genf vor der Partie zwischen Servette und dem EVZ auf dem Eis die Werbetrommel für die WM rührte und sich später als Scout auf der Tribüne an der Seite des ehemaligen Servette-Trainers Chris McSorley über taktische Kniffe gegen grosse Gegner austauschte. «Es gibt zurzeit acht Mannschaften, die Weltmeister werden können – und ich bin überzeugt: Wir gehören dazu. Dieses Potenzial haben wir uns erkämpft, und wir arbeiten weiterhin hart daran», sagt Fischer, «wir sind ein gefährlicher Gegner.» Er vergleicht seine Spieler dabei gerne mit einem Wolfsrudel, einer starken und sozialen Gemeinschaft auf der Jagd nach der grossen Beute.
Sechs NHL-Schweizer in neun Tagen
Eines der Alphatiere ist dabei Nino Niederreiter. Der Stürmer der Carolina Hurricanes liess diese Saison aber seinen Torinstinkt vermissen. «Nino ist ein wichtiger Wolf, und wir haben ein grosses Rudel von Wölfen, in dem jeder seine Rolle voller Leidenschaft ausfüllt. Wenn es einem Wolf nicht gut geht, dann lassen wir ihn nicht liegen, sondern versuchen, ihn aufzurichten und wieder zu integrieren.»
Über ein Dutzend seiner wildesten Wölfe sind derzeit in Übersee engagiert, nebst Niederreiter traf er – zusammen mit Nati-Direktor Lars Weibel und Assistenztrainer Tommy Albelin – innerhalb von neun Tagen sechs weitere NHL-Schweizer.
«Den Puls fühlen und das Bekenntnis für die Nati einholen», so das erklärte Ziel von Fischer, der zum Auftakt der US-Reise Roman Josi und Yannick Weber besuchte, die mit Nashville gegen Edmonton mit Gaëtan Haas aufliefen. Es folgte der kurze Abstecher nach Minnesota zu Kevin Fiala. Weiter nach New York, wo Fischer in der wohl teuersten Hockey-Arena der Welt eine unvergessliche Premiere erlebte.
«Ich war vorher noch nie im Madison Square Garden. Das Stadion und das Spiel haben mich einfach umgehauen», sagt Fischer und schwärmt von dieser historischen Nacht, als die Rangers in einer dramatischen Partie gegen Washington – mit Jonas Siegenthaler – mit 6:5 in der Verlängerung gewannen. «Klar ist so eine Niederlage extrem bitter für Siegenthaler», sagt Fischer, «aber aus meiner Sicht ist es einfach toll, dass ein Schweizer in der besten Liga der Welt Teil eines solchen Matchs ist.»
Notstand in New York
Mitten drin statt nur dabei sind auch Nico Hischier und Mirco Müller bei den New Jersey Devils. Die Visite von Fischer beim überraschenden Sieg gegen die Blues aus St. Louis löst gleich doppelte Freude aus. Für Hischier ist der Nationalcoach mehr als nur ein Trainer: «Ich kann mit ihm über alles reden, bei ihm fühlt man sich einfach wohl.» Die Umarmung an diesem Abend ist allerdings die letzte innige Herzlichkeit für unbestimmte Zeit.
Einen Tag später verhängt die Stadt New York aufgrund der ersten Covid-19-Fälle den Notstand. Vorerst ohne Folgen für den Sport – und für Fischer, der zum Abschluss seiner Reise noch einmal in den Madison Square Garden geht. Trotz Corona füllt sich die Arena im Herzen von Manhattan beim Derby zwischen den Rangers und Devils mit über 17 000 Zuschauern, das zweite Treffen von Hischer und Müller mit Fischer aber platzt – die Garderobe bleibt nach dem Spiel geschlossen. «Ich hätte damals nie gedacht, dass dieses Virus uns dann später so treffen würde.» Dass ihn Stunden zuvor die Nachricht über die Absage der Frauen-Hockey-WM im April ereilt, schüttelt ihn, als Gefahr für das Turnier der Männer im Mai sieht er das in diesem Moment aber nicht. «Wie viele andere habe ich damals noch nicht realisiert, welches Ausmass diese Pandemie noch annehmen würde», gibt Fischer zu.
Ablenkung mit Pinsel und Besen
Das Thema Corona beschäftigt ihn zwar, aber getrieben vom Traum der Heim-WM kehrt er mit einem reich gefüllten Rucksack an Informationen über seine Spieler in die Schweiz zurück – zur schwangeren Freundin Maedy. Drei Tage später macht US-Präsident Donald Trump die Grenze für Europäer dicht. Am 12. März folgt die Absage der Playoffs in der National League wegen des Notstands im Tessin, ein paar Tage darauf kommt der Lockdown in der ganzen Schweiz. «Die Meldungen zum Coronavirus wurden immer schlimmer, und mein inneres Feuer über die Heim-WM wurde immer kleiner», erklärt Fischer die innerliche Zerrissenheit während dieser Zeit. «Ständig in Gedanken verloren», beschreibt Maedy sein Hadern mit dem neuen Schicksal.
Die 33-jährige Fotografin sorgt umgehend für die nötige Ablenkung – eine frische Farbe an ihrer Studiowand. «Er hat dann ein bisschen übertrieben und sogar noch das Lavabo gestrichen», verrät Maedy, «ein Wunder, dass er nicht noch die Katze angemalt hat.» Später tauscht Fischer den Pinsel mit dem Besenstiel und wischt Laub, als würde er um sein Leben kämpfen. Als dann das definitive Aus der Heim-WM ins Haus flattert, ist er froh, dass endlich Klarheit herrscht. «Dieser Tag war für mich wie eine Erlösung», sagt Fischer, «die Qual der Ungewissheit war endlich vorbei.» Schnell findet er den Fokus auf das folgende Jahr, aber auch die Lieblingszahl 21 – die er als Spieler auf dem Trikot trug – bringt ihm kein Glück.
Swiss Ice Hockey verzichtet aufgrund ökonomischer Risiken auf die Bewerbung für eine Neuansetzung für 2021 (Minsk/Riga). Obwohl die Turniere der nächsten fünf Jahre vergeben sind, ist die Austragung 2023 in Sankt Petersburg noch unsicher. Russland unterliegt einer Dopingsperre und darf derzeit keine sportlichen Events durchführen. Fischer will sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. «Ich fände es falsch, in die Opferrolle zu verfallen. Wir müssen zuerst zusammen das Virus besiegen. Irgendwann kriegen wir unsere Heim-WM.»