Matthias Kamber, ist der Sport heute sauberer als früher?
Ja. In den westlichen Ländern sowieso. Als ich vor 30 Jahren angefangen habe, war Doping-Bekämpfung eine Alibi-Übung. Da ist viel passiert. Mit der Ausnahme von Russland und seinem Staatsdopingskandal.
Ein Einzelfall?
In dem Ausmass heute schon. Aber ich habe das Ende des DDR-Sportsystems noch miterlebt, da wurde ähnlich systematisch vorgegangen.
Sie haben während über 30 Jahren an vorderster Front gegen Doper gekämpft. Was ist die seltsamste Anekdote, die Sie erlebt haben?
Es gab einen Fall, da hat uns ein Arzt angerufen, der uns erzählt hat, er habe seinem Athleten aus Versehen Anabolika gespritzt. Die Praxisassistentin habe es mit einem entzündungshemmenden Mittel verwechselt. Das klang sehr eigenartig. Und so eine Verwechslung ist nicht alltäglich. Wir haben den Sportler dann mehrfach getestet, er war mehrfach positiv – der hatte wohl noch nachgedopt.
Schmunzelt man über solche Ausreden?
Nicht unbedingt. Da ist eine ziemliche Dreistigkeit dahinter. Vor allem war das ein Arzt, der bei uns ohnehin schon den Ruf hatte, dass er hart am Wind segelt. Der Athlet wurde dann immerhin für zwei Jahre gesperrt.
Es gab Gerüchte um Betrüger wie Mike Tyson, der darüber sprach, dass er mit einer Penisatrappe die Urinkontrolle umschifft habe.
Das kann man mittlerweile im Internet bestellen: Eine Unterhose mit integriertem Gummipenis. Aber damit kommt heute keiner mehr durch: Die Kontrolleure machen ja mittlerweile eine Sichtkontrolle.
Was ist Ihnen sonst an Tricks und Ausreden untergekommen?
Es gab manche, die haben angegeben, die Anabolika für ihren Hund gekauft zu haben, der angeblich Gicht hatte. Oder es gab Ärzte, die Veterinärprodukte kauften. Die waren günstiger und sie konnten damit zunächst den Verdacht umgehen. Bei Ben Johnson lief das ja so.
Der Kanadier, der 1988 in Seoul Sprint-Olympiasieger und später überführt wurde.
Mit Ben Johnson hatte ich Mitleid. Der war nicht intelligent genug, um zu merken, was mit ihm passiert, er war ein Spielball von Trainern und Ärzten. Der kanadische Sport war verseucht und man wollte unbedingt diese Goldmedaille. Als er aufflog, wurde er von allen fallengelassen.
Wenn Sie heute jemanden dopen müssten. Wie würden Sie vorgehen?
Das ist heute nicht mehr so leicht, zumindest im Westen. Da müsste man mit Mikrodosen arbeiten, Anabolika-Gels zum Beispiel, die man auf die Haut reiben kann. In anderen Ländern sind es immer noch die Klassiker: Anabolika, Epo, Wachstumshormone. Aber die Möglichkeiten sind grösser geworden im Labor, wir finden viel mehr. Dadurch, und weil im Radsport und in der Leichtathletik das Thema mittlerweile seriös angegangen wird, scheint ein Kulturwandel stattgefunden zu haben.
Wenn wir mit den heutigen Methoden Dopingproben von 1992 in Barcelona oder 1996 in Atlanta untersuchen könnten …
… dann hätten wir viel mehr positive Fälle. Sie würden staunen! Vor allem Anabolika wurde damals in rauen Mengen genutzt, wir konnten es einfach nicht nachweisen, wenn rechtzeitig abgesetzt wurde. Wir hätten ganz andere Ranglisten.
Sind die Dopingkontrollen heute wirklich so gut?
Sie sind besser, aber die Betrüger auch. Wir müssen dranbleiben. Und das kostet. Wenn wir nicht mehr Geld bekommen, sind wir auf verlorenem Posten. 2011 gab es eine Studie, nach der der Sport in der Schweiz rund 20 Milliarden Franken umgesetzt hat, 1,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Antidoping Schweiz hat davon ein Jahresbudget von knapp 5 Mio. bekommen. Und dies ist seit 2010 gleich. Das ist viel zu wenig. Es wäre angebracht, da mehr zu investieren. 1 Prozent Anteil an den TV-Rechten und Sponsorenbeiträgen würde schon reichen.
Was denken Sie, in welcher Sportart haben wir den nächsten grossen Dopingfall?
Im internationalen Schwimmen. Da haben wir ähnliche Strukturen wie bei den Gewichthebern, die kürzlich aufgeflogen sind. Mit einem Präsidenten, der lange an der Macht ist, mit Intransparenz. Da hören wir bestimmt etwas.
Matthias Kamber leitete bis 2018 als Direktor Antidoping Schweiz. Eine Behörde, die er seit den 1980er-Jahren aufgebaut hatte – mit massgeblichem Einfluss. Jetzt ist der international anerkannte Experte als Berater unterwegs. Zusammen mit dem Journalisten Benjamin Steffen (NZZ) hat er das Buch «Der vergiftete Sport» verfasst, das am Freitag erscheint und sich unter anderem mit einer Reihe bekannter Doping-Fälle beschäftigt.