Ein Businesspark in Münchenstein. Via Hintereingang geht es in den Snooker Club Basel. Da steht er. Mittendrin. Tisch Nummer 5. Hier hat Alexander Ursenbacher (21) in den letzten Jahren bis zu neun Stunden täglich verbracht. Tausende von Kugeln versenkt. Geträumt von der grossen Karriere. Gekämpft gegen Selbstzweifel. Gehadert. Gehofft. Gelitten.
Mitte Oktober hat sich das monotone Training ein erstes Mal ausbezahlt. Beim English Open in Barnsley schlug Ursenbacher den ehemaligen Weltmeister Shaun Murphy und schaffte es bis in den Halbfinal. Eine Sensation! Vor ihm ist das noch nie einem deutschsprachigen Spieler gelungen.
Wer deshalb wenige Tage danach einen euphorischen Ursenbacher erwartet, der täuscht sich. «Wenn du in diesem Sport das Gefühl hast, du bist schon gut, dann ist es schon wieder vorbei», analysiert er kühl. «Ich werde noch viele bittere Niederlagen erleben.» Ursenbacher zeigt mit dem Finger auf seinen Kopf: «Entscheidend wird der hier sein.»
Die Psyche. In kaum einer Sportart ist das Mentale so wichtig wie im Snooker. Im Masters-Final 2007, dem wichtigsten Einladungsturnier, führte der Chinese Ding Junhui gegen die Legende Ronnie O’Sullivan 2:0. Alles schien für ihn zu laufen. Doch dann kam der Bruch. Von der einen auf die andere Sekunde. Auf einmal verschoss Ding die einfachsten Bälle. Ging 3:10 unter. Weinte minutenlang. Und benötigte danach volle zwei Jahre, um wieder Erfolg zu haben. Das ist Snooker.
Ursenbacher kennt diese und ähnliche Geschichten. Sah Spieler kommen, die ein starkes Turnier spielten, und die danach für immer verschwanden. «Beim Snooker hängt alles von dir ab. Nur du bist verantwortlich.» Keine Mitspieler, die dir helfen könnten. Kein Schiedsrichter, der das Spiel zu deinen Gunsten ungewollt beeinflussen kann. Kein Trainer, der dir in einer Krise gut zureden könnte. Keine äusserlichen Einflüsse wie das Wetter, die stören könnten. Es liegt alles an dir selbst.
Genau das liebt Ursenbacher. Als er mit zwölf Jahren Snooker für sich entdeckt, zeigt ihm jemand nur, wie man den Spielstock, den man das Queue nennt, richtig hält. Mehr nicht. Dann liegt es an ihm. Während Jahren schaut er sich Tag für Tag auf Youtube Spiele an. Vier Jahre lang gibt es deswegen in der Familie heftige Diskussionen, und immer wieder sagt seine Mutter: «Mach eine Lehre, hab einen Plan B.» Alexander beschwichtigt: «Warte, warte, das kommt schon gut.»
Das Aussergewöhnliche an der Karriere von Ursenbacher: Weil es zuvor noch nie einen Schweizer Snooker-Profi gab, kann er keinem heimischen Vorbild nacheifern. Er hat keine Klubkollegen, die ihn ernsthaft fordern können. Keine Präsenz in den Medien. Keine Sponsoren. Nur ein älterer Mann im Klub und seine Eltern unterstützen ihn finanziell mit dem Nötigsten. Wäre Ursenbacher ein Brite, es wäre viel einfacher gewesen.
Das Mekka des Snookers. Im Gegensatz zur Schweiz sind Snookerspieler auf der Insel Stars. Verdienen Millionen. Sind Helden. 1985 zum Beispiel schauten sich 18,5 Millionen Zuschauer am TV den WM-Final an. Ewiger Rekord! Mehr als bei jedem Fussballspiel zuvor. Oder der WM-Final 1997. Damals traf der Ire Ken Doherty auf Stephen Hendry. Als es am zweiten Finalabend dramatisch wurde, sassen in Dublin offenbar auch die Langfinger und Brandstifter vor dem Fernseher. Während Stunden ging in Dublins Notrufzentrale nicht ein Anruf ein. Das war und ist bis heute einmalig.
2012 geht Ursenbacher ein erstes Mal nach England. In einer Snooker Academy trainiert er einen Monat lang. Ein Jahr später wird er offiziell Profi. Und gewinnt in zwei Jahren gerademal vier Spiele. «Ich wurde zwei Jahre lang kaputt gemacht, war aber trotzdem entspannt. Ich war mir sicher: Das passt schon, das kommt noch.»
Weil er aber keinen Erfolg hat, verliert er den Profi-Status. Trainiert wieder stundenlang an Tisch Nummer 5. Mittlerweile muss er seinen Klubkollegen bis zu 100 Punkte Vorsprung geben, um künstlich Spannung zu erzeugen. Da sein verhältnissmässig schlechter Trainingstisch mit einem Wettkampftisch nicht zu vergleichen ist, kann er gewisse Stösse gar nicht trainieren. Das wäre in etwa so, als wenn ein Roger Federer im Training nur mit einem alten Holzschläger spielen könnte.
Doch das Training, der Willen und die Einstellung zahlen sich aus. Anfang 2017 gelingt ihm bei den Kings Snooker Open in Österreich sein erstes Maximum Break in einem Wettkampf.
Das Maximum Break. Für die Snooker-Liebhaber ist ein Maximum das Höchste der Gefühle. 15 Mal Rot, jeweils 15 Mal gefolgt von der schwarzen Kugel. Und danach noch die sechs Farben in der richtigen Reihenfolge versenken. Und das alles, ohne einen einzigen Fehler zu machen. Fertig ist das perfekte Frame von 147 Punkten. Bis heute gibt es erst 133 offizielle Maximum Breaks. Das von Ursenbacher hat es übrigens nicht in diese Liste geschafft, da es ihm nicht auf der so genannten Main Tour gelungen ist.
Nach seinem Maximum Break geht Ursenbachers Aufstieg weiter. Im März 2017 wird er Junioren-Europameister, qualifiziert sich dadurch für zwei Jahre für die Main Tour und wird zum zweiten Mal Profi. An der WM schafft er es schliesslich bis in die dritte Quali-Runde und an den English Open bis in den Halbfinal.
Entsprechend euphorisch fallen die Reaktionen aus. Eurosport-Kommentator Rolf Kalb, der den Sport seit Jahrzehnten genauestens verfolgt, sagt: «Was der Schweizer da leistet, ist einfach nur der Wahnsinn. Wir sollten es genauso machen, wie auch er es machen sollte: den Erfolg, den er jetzt hat, geniessen und Spass daran haben.»
Auch Ronnie O’Sullivan ist begeistert. «Ich liebe diesen Schweizer», erklärt er kurz und knapp.
Die Legende. «Ronnies Worte machen mich sehr, sehr, sehr glücklich», betont Ursenbacher. Für viele Experten ist Ronnie O’Sullivan der grösste Spieler aller Zeiten. Was den Briten ausmacht: sein Leben mit vielen Höhen und ebenso vielen Tiefen. Sein Vater sass einst wegen Totschlags 18 Jahre im Knast. O’Sullivan selbst war zeitweise ein Alkoholiker, esssüchtig und hatte Depressionen. Seit einigen Jahren hat er das Laufen für sich entdeckt. Dies sei die beste Therapie für ihn. So wie er lebt(e), so spielt der fünffache Weltmeister auch. Der Rechtshänder kann schon mal ein ganzes Frame mit links spielen, um die Konzentration nicht zu verlieren. Oder er schafft – ohne mit der Wimper zu zucken – das schnellste Maximum Break der Geschichte (5:20 min). Die andere Seite: Noch heute kann er gelegentlich völlig lustlos auftreten und dauernd mit seinem Spiel hadern.
Die Suche nach dem perfekten Spiel. Ein Leben zwischen Genie und Wahnsinn. Das fasziniert auch Ursenbacher. Und genau das macht es so schwierig zu sagen, ob der Schweizer vor einer grossen Karriere steht oder bald wieder in der Versenkung verschwinden wird. Entscheidend wird dabei sein, wie er mit Niederlagen umgehen wird. «Wenn ich ein Spiel verliere, das ich hätte gewinnen sollen, fühle ich mich richtig schlecht. Manchmal bleibe ich dann stundenlang alleine im Hotelzimmer. Oder ich gehe eine Stunde später gleich wieder trainieren.»
Die hohe Kunst des Snookersports ist es, dabei nicht verrückt zu werden. «Beim Snooker bist du immer am Denken und am Abwägen», erklärt Ursenbacher. «Du musst dauernd Entscheidungen treffen und dich fragen, was passieren könnte. Schaffe ich diesen Stoss? Oder schaffe ich ihn nicht? Dieser innere Kampf kann dich kaputt machen.» Trotzdem verzichtet Ursenbacher auf einen Mentaltrainer. Vielleicht hilft es ihm auch, dass er nebenbei noch in Sissach in einer Bar arbeitet und so nicht dauernd an seinem Spiel rumstudieren muss.
Dass er trotz Profi-Status noch arbeitet, hat aber auch finanzielle Gründe. Noch hat er keinen einzigen Sponsor. Das soll sich bald ändern. Auch dank seines Queues. «Mit diesem Stück spiele ich meinen Lohn ein.»
Das Queue. Wie wichtig für einen Spieler sein Queue ist, zeigt das Beispiel Stephen Hendry. Der Schotte gewann mit seinem billigen 50-Euro-Queue sieben WM-Titel und wurde zu einem der besten Spieler der Welt. 2003 ging es kaputt. Danach gewann er kein grosses Turnier mehr. 2011 sagte er: «Mein Spiel hat sich danach sehr stark verändert. Ich habe bis heute noch kein Queue gefunden, das sich genauso spielt wie das alte.» 2012 beendete Hendry seine Karriere.
Auch Ursenbacher achtet sehr auf sein Queue der Marke Acuerate. Seit 2013 spielt er mit dem 700 Franken teuren Spielgerät. Als es am Flughafen in Manchester einmal nicht ankam, hatte er «bestimmt zwei Stunden am Stück geflucht» und eine unruhige Nacht.
Unruhig wird Ursenbacher auch jetzt. Man spürt es, er möchte jetzt lieber wieder trainieren statt reden. Gleich wird er wieder stundenlang Bälle versenken. Im Businesspark in Münchenstein. Alleine. An Tisch Nummer 5.