So bewegt war das Leben von Enrico «Rocky» Scacchia
1:22
Schweizer Profiboxer:Enrico «Rocky» Scacchia ist tot

Steiler Aufstieg, tiefer Fall, leidvolles Sterben
So dramatisch war das Leben von Boxer Enrico Scacchia (†56)

Er war ein Stern am Schweizer Sporthimmel. Doch das Leben raubte ihm alles. In der Nacht auf Freitag starb Box-Legende Enrico Scacchia mit 56 an Krebs.
Publiziert: 19.07.2019 um 13:53 Uhr
|
Aktualisiert: 19.07.2019 um 20:02 Uhr
1/13
Die Schweizer Box-Szene trauert um Enrico Scacchia.
Foto: Reto Camenisch
Patrick Mäder

Enrico Scacchia war ein schöner, stolzer, junger Mann mit italienischen Wurzeln und grossem Herzen, der als eines der grössten Versprechen im Schweizer Sport galt, als Boxer mit Zukunft, der als Schüler von Charly Bühler Mitte der Achtziger zweimal um den EM-Titel fightete – und zweimal verlor.

Als 11-Jähriger tauchte er erstmals in Bühlers Boxkeller auf, um sich die Handschuhe schnüren zu lassen. Ein scheuer, dünner Knabe, der vom Vater verlassen, von den Mitschülern gefoppt, von der Mutter verprügelt wurde und diesen Erniedrigungen für immer ein Ende setzen wollte. Bühler entwickelte aus ihm einen eitlen Modellathleten, einen Schweizer Rocky, dem die Frauen zu Füssen lagen. 

Doch das Drama des Lebens machte aus diesem Adonis einen anderen. Vor elf Jahren begleiteten wir ihn bei seiner Rückkehr in den legendären Boxkeller von Charly Bühler in Bern. Er war damals 45, nicht fett, aber massig-muskulös, in ärmellosem T-Shirt, dunkelblauer Trainingshose und fahrig heruntergerollten Socken, die in Schuhen stecken, die mehr an Wandern als an Boxen erinnern. Keine Locken waren mehr zu sehen, keine Backenknochen. Dafür fiel dieser ausgeprägte Nacken auf. Einer, wie ihn sonst nur Mike Tyson hat. «Das kleine Pflaster hier auf der Brust», sagte Enrico, «soll die Durchblutung fördern. Ich probier das jetzt einfach mal aus.»

«Bin ich etwa tot?»

Enrico Scacchia explodiert. Schlägt einen harten linken Cross, lässt eine rechte Gerade folgen, bückt sich, weicht aus, schlägt wieder zu. Die Linksrechts-Kombination hallt dumpf nach, der alte Sandsack ächzt. «Siehst du?», keucht Scacchia, «alles noch da, wie früher!» Er trainiere jeden Tag zwei bis vier Stunden. Wirklich? Enrico ist ausser Atem, schwitzt, klaubt mit den Boxhandschuhen eine Plastikflasche mit der Aufschrift «Destilliertes Wasser» aus seinem blauen Rucksack, setzt an, trinkt. Ist das nicht ungesund? Enrico grinst. «In der Apotheke, in der ich die Flasche kaufte, haben sie mich gewarnt. Zu viel von dem chemisch reinen Wasser ohne Mineralien könne tödlich sein. So ein Unsinn! Oder bin ich etwa tot?»

Enrico Scacchia hat alles durchgemacht. Aufstieg, Erfolg, Familienglück. Abstieg, Niederlagen, Scheidung, Tiefschläge. Am schlimmsten traf ihn die Trennung von seinen Kindern; Tochter Liù, heute 32, und Sohn Julian, 30. Nach der Scheidung vor 27 Jahren wurde Scacchia das Besuchsrecht eingeschränkt, zeitweise ganz entzogen. Er kämpfte wie wild um seine Liebsten und endete in der Psychiatrischen Klinik Waldau, Abteilung G, Zimmer 206. Weil er am Ende eine Frau bedrohte, die er für die Trennung von seinen Kindern verantwortlich machte.

Das Ende als Boxer

Da hatte er längst alles verloren: Ruf, Publikum, Geld, Frau, Kinder, sogar die Boxlizenz. Die wurde ihm 1992 aufgrund des Gutachtens eines Berner Neurologen entzogen. Dessen Befund eines fortschreitenden Hirnschadens stempelte Scacchia zum bekloppten Invaliden ab. Es nützte ihm nichts, dass ein weiteres Gutachten des Universitätsspitals Zürich sieben Jahre später zu einem anderen, für ihn günstigeren Befund kam. Der Sportler Scacchia war gebodigt, ausgeraubt, erledigt.

Scacchia hat nach dem Training nicht geduscht, sich nur einen schmuddeligen weissen Strickpulli mit einem gelben Fleck auf Brusthöhe übergezogen. Nachdenklich sitzt er im Café gegenüber dem Boxkeller und rührt im kalt gewordenen Cappuccino. Dann wird er laut, zitiert abwechslungsweise aus der Bibel und der Philosophie. Gäste verstummen, schauen verstört herüber. Er predigt, beschwört, zieht Gleichnisse heran, spricht in Rätseln. Und man kommt ins Grübeln, fragt sich: Ist es das wert? Boxen als ein Sport, der darauf angelegt ist, das Gehirn zu lähmen, ist kaum mehr zu verteidigen. Auf Fragen gibt Scacchia ausufernde Antworten, die im Irgendwo versinken. Dann verstummt er, verliert sich in seinem Abbild, das sich im Fensterglas spiegelt. Und ist plötzlich wieder voll da, löst sich aus der geistigen Verfangenheit, bringt alles auf den Punkt. Wie eben, als er auf den Sandsack eindrosch, so vehement, als müsste er sich und all den anderen seine weltliche Existenz beweisen, zur Wahrung der eigenen Bedeutung.

«Sind Sie einsam?» – «Nein, ich habe meine Erfüllung in Jesus gefunden. Und ich habe Freunde, wenn ich welche brauche.» – «Sind Sie gescheitert?» – «Oh ja, als Boxer bin ich gescheitert und das ist gut so.» – «Gut so?» - «Hätte ich nicht alles verloren, hätte ich mich nie gefunden. Erst durch das Scheitern habe ich das Wesentliche erkannt. Der Mensch ist zu klein, um Grösse vorzutäuschen. Und wer sich gross macht, bietet Fläche an, wird verletzlich.» – «Haben Sie Angst vor der Zukunft?» – «Klar habe ich Angst. So wie ich früher vor jedem Kampf Angst hatte. Nur wollte ich das damals nicht zugeben. Ich spielte die Rolle des furchtlosen Helden. Heute muss ich das zum Glück nicht mehr.»

Endlich erlöst

Als er diese Worte sprach, wusste Scacchia noch nichts von seinem nächsten Tiefschlag. In seinem Körper rumorte es da bereits. Es war der Anfang einer Leukämie- und Lymphdrüsenkrebs-Erkrankung. Diesem letzten Kampf seines Lebens hielt er lange tapfer entgegen. Er warf noch einmal alles rein, kämpfte wie ein wilder Stier bis zum Schlussgong. In der Nacht auf Freitag hat er nun endlich Ruhe gefunden. Tochter Liu und Sohn Julian verbrachten die vergangenen Tage und Nächte am Krankenbett des Vaters. «Die letzten Monate waren besonders schlimm.» sagen sie. «Es ist eine Erleichterung, dass er endlich gehen durfte.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?