Niemand hatte auf Christina Nigg (59) gewartet. Damals, in den Neunzigerjahren, wollte die Thunerin Profiboxerin werden. Der Schweizer Boxverband wollte das nicht, verweigerte ihr zunächst die Lizenz. Boxen verursache Brustkrebs und beeinflusse die Monatsblutung, erklärte Peter Stucki, damals wie heute Vizepräsident des Verbandes, unter Berufung auf eine umstrittene Studie. Was schon damals abenteuerlich anmutete, wirkt heute regelrecht bizarr.
«Beim Boxen wurden Frauen früher von ihren Männern zur Dekoration mitgenommen», erklärt Nigg die damalige Reaktion. «Wie eine Handtasche. Das war ihre Rolle. Es dürfte den einen oder anderen Herrn in eine persönliche Krise gestürzt haben, als er plötzlich im Ring Frauen sehen musste. Dabei hatten wir damals schon Frauen in Führungspositionen, wir hatten eine Bundesrätin. Es war höchste Zeit, dass wir auch boxen durften.» Schon da setzte Nigg sich durch. Sie wurde Weltmeisterin im IBC-Verband, später boxte sie mit Schweizer Lizenz.
Nigg soll Verband in ruhigere Gewässer führen
Heute, 20 Jahre später, ist sie Chefin Leistungssport beim Verband. Nachdem sich Swiss Boxing vom langjährigen Nati-Coach Michael Sommer und Leistungssport-Chef Matthias Luchsinger getrennt hatte, wurde sie zusammen mit Federico Beresini in die sportliche Verantwortung genommen. «Sie haben die beste Bewerbung eingereicht», sagt Präsident Andreas Anderegg.
Nigg soll den Verband wieder in ruhigeres Fahrwasser führen. Rund ums skandalöse Olympia-Qualifikationsturnier in London im März gab es mächtig Unruhe. Nach drei Turniertagen wurde wegen Corona abgebrochen, der Schweizer Teilnehmer Angel Roque steckte sich mit dem Coronavirus an. Die Verbandsspitze hatte tagelang keinen Kontakt zum Team, so zerrüttet war das Verhältnis mit Sommer.
Es gibt viel zu kitten. Als die Trennung von Luchsinger bekannt wurde, meldeten sich die Boxklubs in einem Brief zu Wort. «Wir wollen die Rückkehr von Matthias zu seinen Bedingungen», hiess es darin einstimmig. Der Verband liess sich nicht erweichen, auch die verlangte Publikation des Briefs auf der Verbandshomepage lehnte man ab. Die Angst: «Geben wir damit nicht vielmehr nach aussen den Eindruck einer zerstrittenen Organisation?», wie es in einem Mail heisst.
Boxen zu den Leuten bringen
«Wir sind eine Randsportart», sagt Präsident Anderegg. «Da können wir uns kein Gegeneinander leisten – auch wenn es unter Boxern mal knallen kann. Wir müssen das Boxen zusammen zu den Leuten bringen. In der Schweiz – die Auslandturniere kommen in Zukunft erst als zweiter Schritt.»
Nigg wird auch den einen oder anderen Sportler überzeugen müssen. Unter den Amateuren im olympischen Boxen sind nicht alle begeistert, dass mit Sommer ihr jahrelanger Vertrauter von Bord gehen musste, mitten in der laufenden Olympia-Kampagne.
In die Geschlechterfalle tappen will Nigg nicht. «Wir werden keine Auseinandersetzungen Frau gegen Mann haben und uns streiten, wer es besser macht», sagt sie. «Es geht um Kompetenz, damit will ich überzeugen.» Noch während ihrer Profikarriere hat sie sich mit ihrem ärgsten Widersacher versöhnt. «Bei meinem letzten Kampf hat mir Peter Stucki gesagt, welchen Respekt er für meine Leistung mittlerweile empfinde», sagt sie. «Das ist okay.»
«Früher gab es noch richtige Krieger»
Als sie vor ein paar Jahren eine Nachwuchs-Delegation als Leiterin und Cheftrainerin an ein Turnier nach Bulgarien begleitete, wurde sie zunächst für eine medizinische Betreuerin gehalten. «Als ich ihnen gesagt habe, wer ich bin, hatten sie den Plausch», sagt sie. «Da haben die Kasachen die Pralinéschachtel rausgeholt.»
Nur Süsses gibts für die Boxer unter der neuen Chefin in den nächsten Jahren nicht. «Früher war Boxen anders, da gab es noch richtige Krieger», sagt sie. «Mittlerweile gibt es in der Schweiz so viele Möglichkeiten für Jugendliche, Sport zu machen. Boxen ist hart. Wenn du einen an d’Schnurre bekommst, tuts weh.» Ihr Ansatz: Die Trainerausbildung zu verbessern, die Strukturen zu stärken, Trainern, Funktionären und Athleten Instrumente zu geben, mit denen sie arbeiten können. Statt praktisch eines einzigen Verbands-Leistungszentrums wie bisher soll es sechs regionale Zentren geben, in denen Talente gefördert werden.
Strukturen, aus denen irgendwann wieder ein grosser Schweizer Boxer hervorgehen soll. Der letzte bei den Amateuren? Bela Horvath, Schweiz-Ungar aus Basel, Jahrgang 1937, der 1965 Europameisterschafts-Bronze im Halbschwergewicht holte. «So schnell gehts nicht», sagt Nigg. «Wir nehmen Schritt für Schritt.» Mit Durchboxen hat sie ja Erfahrung.