Normal ist er nicht. Dabei wollte Clint Capela (23) nie etwas anderes sein als das. «Als Kind habe ich mir ein normales Leben gewünscht», sagt er. «Ich wollte ein normaler Junge sein mit einer normalen Familie.»
Capelas Geschichte ist das Gegenteil von normal, es ist eine, die selten wahr, aber oft erzählt und verfilmt wird von Hollywood: Armer Junge mit schwerer Kindheit und schwarzer Haut spielt sich in die höchste Liga und wird berühmt. Nur dass dieser Junge in Genf aufgewachsen ist und nicht in irgendeinem Armenviertel in Amerika.
Aber dort, in den USA, ist Clint Capela gelandet. Der zweite Schweizer, der es in die NBA geschafft hat, braucht von seiner Wohnung in Downtown Houston zu Fuss keine zehn Minuten zu seinem Arbeitsplatz, dem Stadion der Houston Rockets. Eine gute Idee ist das trotzdem nicht unbedingt. Inkognito kann sich der 2,08-Meter-Mann in der texanischen Metropole ohnehin nicht mehr bewegen. In Houston ist Capela ein Liebling der Massen. Wenn der Center zum Dunk ansetzt oder unter dem eigenen Korb wuchtig den Versuch eines Gegners wegblockt, toben die 18’000 im Toyota-Center.
«Ich wäre überrascht, wenn er nicht einer der besten Center der Welt würde», sagt sein Coach Mike D’Antoni. «Wenn nicht sogar der Beste.» Die beste Wurfquote hat der Schweizer in der besten Liga der Welt mittlerweile, in allen für seine Position wichtigen Statistiken taucht er in den Top Ten auf. Und dann macht er auch die Drecksarbeit, blockt für die Superstars James Harden und Chris Paul den Weg frei. Was die Filigrantechniker Harden und Paul mit dem Skalpell vorbereiten, vollendet er mit dem Vorschlaghammer. Spektakulär. Clint Capela ist auf dem Weg zum Superstar.
Und nichts hat darauf hingedeutet. «Meine Kindheit war furchtbar», sagt Capela. Er sitzt am Dachpool seines Appartement-Hochhauses im 24. Stock, der Blick geht über die Dächer von Houston. «Damals wusste ich das einfach nicht, weil ich nichts anderes kannte.»
Mutter wollte Schauspielerin werden
1994 wird er in Genf geboren, als Sohn einer Kongolesin und eines Angolaners. Mutter Capela ist einst mit dem Traum nach Europa gekommen, in Italien Schauspielerin zu werden. In Rom wird sie Mutter, Capelas älterer Bruder Fabrice kommt zur Welt. Die Beziehung mit Fabrices Vater geht in die Brüche, in Genf lernt sie einen anderen Mann kennen. Landry und Clint heissen die beiden Söhne, die aus der Beziehung hervorgehen.
Der Mann ist bald weg, die Kinder bleiben. Und Mutter Capela versucht, die drei Jungs irgendwie durchzubringen, der Traum von der Karriere auf der Leinwand ist längst geplatzt.
«Meine Mutter hat Tag und Nacht gearbeitet», erzählt Clint mit tiefer Stimme. «In einer Firma hat sie Elektrogeräte repariert. Wenn sie morgens zur Arbeit gegangen ist, hat sie dafür gesorgt, dass mich eine ihrer Freundinnen zur Schule gebracht hat. Am Abend hat mich eine andere Freundin zu einer dritten Freundin gebracht, dort habe ich gewartet, bis sie mich abholte.»
Was ist mit dem Vater? «Das Wort habe ich nicht in meinem Wortschatz», sagt Capela. «Ich kenne meinen Vater, aber ich habe ihn nie so genannt. Die paar Mal, die ich ihn gesehen habe, habe ich ihn nicht mit Papa angesprochen. Ich konnte das nicht, es wäre nicht richtig gewesen. Dabei habe ich mir immer einen Vater gewünscht. Ich hatte einfach keinen.»
Irgendwann wird alles zu viel für Mutter Capela. Clints ältere Brüder machen in der Schule Ärger. Fabrice ist schon zu alt dafür, aber Landry wird ins Pflegeheim gesteckt. Clint, gerade mal sechs Jahre alt, muss mit. «Das war eher zu meinem Schutz, meine Mama wollte nicht, dass ich in schlechte Gesellschaft gerate.»
Lange ist Fussball die grosse Leidenschaft
Nur am Wochenende darf er seine Mutter besuchen, eine Dreiviertelstunde dauert die Fahrt mit dem Bus. «Heute weiss ich, wie schwer das für sie war. Sie hat jedesmal geweint, wenn ich am Sonntagabend wieder gegangen bin.»
Das Leben im Heim mag geordnet sein, behütet ist es nicht. «Es war schrecklich. Da gab es viele Jungs, die üble Sachen angestellt haben. Schlechte Einflüsse.» Mit zwölf wechselt Capela das Heim. Ein Jahr später darf er wieder nach Hause. Endlich.
«Als ich da rausgegangen bin, war ich erwachsen. Zuhause habe ich von da an alles selber gemacht. Meine Wäsche, den Haushalt, geputzt, Kleider gekauft, alles.»
Noch immer spielt Basketball in seinem Leben keine Rolle. Fussball bestimmt Capelas Leben. Mit leuchtenden Augen erzählt er heute noch von den Turnieren zwischen den Pflegeheimen, von seinem Klubteam in Versoix. «Ich war Stürmer oder im offensiven Mittelfeld. Das habe ich geliebt. Ich hatte schnelle Füsse und eine gute Technik.» Bis Bruder Landry mit Basketball anfängt. «Da hat es mich gepackt.»
13 ist Capela, als er sich bei Meyrin Basket anmeldet. Für eine Karriere auf Weltklasse-Niveau ist das eigentlich viel zu spät. Doch er ist besessen vom Basketball. Im Teletext überprüft er morgens, wie sich sein Landsmann und Vorbild Thabo Sefolosha in der NBA geschlagen hat. Auf Youtube schaut er sich Videos der Stars an und ahmt sie im Genfer Parc Geisendorf nach. Er verfolgt den NBA-Draft, versucht herauszufinden, was die Talente draufhaben, auf welche die US-Klubs in der Traumliga ein Auge geworfen haben. Arbeitet auf, was ihm noch fehlt. «Dann habe ich einfach immer weitergemacht.»
Der Schweizer Verband wird auf ihn aufmerksam, die renommierte französische Nachwuchsakademie in Chalon will ihn. Mit 15 versucht er sein Glück, zieht dorthin. Er darf mit erst mit den Profis trainieren, später mitspielen. Dort sehen ihn die Scouts der Rockets. General Manager Daryl Morey schlägt 2014 zu: Im NBA-Draft schnappt er sich den schlaksigen Schweizer mit dem 25. Pick.
Ein Jahr lang spielt Capela hauptsächlich in der unterklassigen D-League, dann wird er zu den Rockets befördert. «Plötzlich war ich in der NBA.» Hinter Superstar-Center Dwight Howard geniesst Capela eine Art Welpenschutz. «Zum Glück», sagt er heute. «Mir ist es lieber, durch den Hintereingang zu kommen und mich nach oben zu arbeiten als durch die Vordertür herein zu trampeln.»
Für seinen ersten Jahreslohn findet er eine besondere Verwendung. «Damit habe ich die kompletten Schulden meiner Mutter abbezahlt. Bis auf den letzten Rappen.» Rund 300'000 Franken sind das. «Du kannst jetzt aufhören zu arbeiten, habe ich ihr gesagt. Du hast genug gemacht dein ganzes Leben lang.» Seine Miene verfinstert sich. «Es macht mich heute noch wütend, dass man einer Frau, die hart schuftet, solche Schulden aufdrückt, wenn man weiss, dass sie das nie im Leben abbezahlen kann.»
Mama Capela lebt weiterhin in Genf. «Da fühlt sie sich am wohlsten, da hat sie ihre Freundinnen», sagt der Sohn. «Aber ich fliege sie ein, wann immer sie will.» Zwei-, dreimal im Jahr ist das der Fall.
Läuft alles nach Plan, wird Familie Capela in diesem Jahrhundert keine Geldsorgen mehr haben. Im Sommer dürfte der Schweizer einen Riesen-Vertrag unterschreiben, ein Jahressalär von 20 Millionen US-Dollar steht im Raum. Bei den Rockets rufen sie ihn darum bereits «Swiss Bank», ein Spitzname, den Capela nicht mag.
Die NBA-Glitzerwelt, in der er sich bewegt, scheint ihm dagegen zu behagen. Bei den Houston-Heimspielen gibt es in den Spielunterbrüchen auf dem Videowürfel eigene lustige Capela-Filmchen. «A capella with Capela» heisst eine Rubrik. In den Mini-Videos singt Capela Pophits, die Teamkollegen müssen erraten, um welchen Song es sich handelt. In «Fashion Copela» spielt der Schweizer einen Mode-Polizist, der die extravagant angezogenen Teamkollegen ihrer Mode-Verbrechen überführt. Ein Heiden-Gaudi.
«Lebe kein normales Leben»
«Er ist eigentlich ein ruhiger Typ», sagt ein Betreuer, der jeden Tag um das Team herum ist. «Aber solche Sachen machen ihm Spass.»
Kurz mal in die Bredouille gerät der Schweizer nur einmal, im Januar, als er eine dicke Lippe riskiert. «Wir wissen, dass wir sie schlagen können, wenn wir unser Spiel durchziehen», sagt er nach einem Sieg über NBA-Champion Golden State Warriors. «Wir sind besser als sie.» Kevin Durant von den Warriors reagiert wenig amüsiert. «Er soll keinen Scheiss erzählen», schimpft der Superstar. Heute erscheinen Capelas Worte nicht mehr grossspurig. Überlegen gewinnen die Rockets die Qualifikation, sie gelten als heissestes Team der Liga. «Das ist ein besonderes Jahr für uns», sagt Capela. Ein Jahr, das im Juni mit dem Titel enden könnte.
Damit, dass er nicht wie jedermann ist, hat Capela in der Zwischenzeit seinen Frieden gemacht. «Heute realisiere ich, dass ich kein normales Leben habe», sagt er. «Und ich bin stolz darauf. Ich will zeigen, dass man es auch schaffen kann, wenn man es nicht leicht hat als Kind.» Der amerikanische Traum, er kann auch mal in Erfüllung gehen. Selbst für einen Jungen aus Genf.