Sie fanden ihn am frühen Morgen in der Innenstadt von Houston. John Lucas, NBA-Star bei den Houston Rockets, lag besinnungslos auf der Strasse, in einem Anzug und Sportsocken, ohne Schuhe, dafür in seinem eigenen Urin, zugedröhnt mit Kokain und Alkohol.
Es war der 14. März 1986 und der tiefste Tiefpunkt in einer Karriere voller Abstürze: Lucas, vor zehn Jahren das verheissungsvollste Talent der Liga, war jetzt am Ende. Am Abend hätte er als Stammspieler mit dem NBA-Spitzenteam Houston gegen die Portland Trail Blazers antreten sollen. Stattdessen schmiss ihn Trainer Bill Fitch raus.
Nur der Schnauz blieb
Lucas hätte sterben können, er wäre nicht der erste gewesen in der drogenverseuchten NBA der 80er-Jahre. So starb der hochtalentierte Len Bias, 1986 22-jährig an einer Überdosis Kokain. Doch Lucas ist noch da. «Ich habe den Teufel gesehen», sagt er, mittlerweile 65-Jährig. «Und lassen Sie mich Ihnen sagen, das war nicht schön.»
Es ist Februar 2019, Lucas sitzt vor einem Auswärtsspiel der Houston Rockets bei den Utah Jazz auf einem Klappstuhl am Spielfeldrand, ausser dem buschigen Schnauzer erinnert nichts mehr an den Lucas von vor 30 Jahren. Auf dem Parkett wärmen sich die hochbezahlten Ballkünstler um Megastar James Harden auf. Auf einen hat Lucas ein besonderes Auge geworfen: auf Clint Capela, den 24-jährigen Center aus der Schweiz. «Für mich ist er wie ein Sohn», sagt Lucas zu SonntagsBlick. «Wir haben uns vom ersten Moment an verstanden.»
Reha-Klinik-Leiter und Talententwickler
Die Drogen und der Suff sind lange Vergangenheit, Lucas führt mittlerweile Reha-Kliniken für Sportler mit Suchtproblemen, ausserdem ist er Talententwickler bei Houston. «Die Stadt hat mein Leben gerettet», sagt er. «Die Arbeit hier ist meine Chance, etwas zurückzugeben.»
Darum kam er mit Capela in Kontakt, als der noch am Anfang seiner Karriere stand. Lucas gilt als einer der Hauptverantwortlichen für den kometenhaften Aufstieg des Genfers, er feilt mit ihm seit Jahren an seiner Wurf- und Abwehrtechnik. «Er gibt mir ein gutes Gefühl, er ist immer positiv», sagt Capela über Lucas. «Sein Humor ist toll. In meinem ersten Jahr war er noch nicht hier, ich wünsche mir, ich hätte damals schon jemanden gehabt, der mich so pusht wie er.»
Der Einfluss des Ex-Profis geht über technische Tipps hinaus. «Ich sehe mich nicht als Mentor, die Verbindung ist enger, das habe ich mit keinem meiner Spieler sonst. Wir reden über alles», sagt Lucas. «Über Geld, Mädchen, Basketball.» Es war Lucas, der Capela im Winter dringend riet, sich an der Hand operieren zu lassen. «Ich habe ihm gesagt: ‹Mach es jetzt! Nimm dir die Pause, werde gesund! Es geht nicht nur um das Leben während dem Basketball, es geht auch um das Leben danach.› Das darf er nie vergessen.»
«Das Geld hat ihn nicht verändert»
Vergessen hat der Genfer auch nicht, woher er kommt. In ärmlichen Verhältnissen und ohne Vater in Genf aufgewachsen, während sechs Jahren in Kinderheimen untergebracht, derweil die Mutter Sozialhilfe bezog, unterschrieb Capela letzten Sommer einen Vertrag, der ihm in fünf Jahren bis zu 90 Mio. US-Dollar einbringen kann.
In Houston wird der 2,08 m grosse Schweizer bereits heute scherzhaft «Swiss Bank» genannt. Doch: «Das Geld hat ihn nicht verändert», sagt Lucas. «Er ist derselbe geblieben.» Das ist auch besser so, denn es wird noch mehr werden, glaubt Lucas. «Ich bin überzeugt, dass er in fünf Jahren einen Maximal-Deal unterschreiben wird. Er wird ihn verdienen.»
Für den alten Profi ist klar: «Capela wird noch viel besser. Er hat jetzt schon mehr drauf, als er zeigen kann, weil bei uns alles auf James Harden ausgerichtet ist, der für mich der beste Spieler der Welt ist. Clint ist mehr als ein Pick-and-Roll-Spieler, der auch noch Dunken kann. Jetzt muss er körperlich noch stärker werden und ein Allstar.»
Doch hat Lucas keine Angst, dass Capela dereinst ob dem vielen Geld, Ruhm und Ehre abheben könnte, wie es ihm selber passiert ist? «Nein», sagt Lucas. «Clint ist ein guter Junge. Ihm muss ich meine Geschichte gar nicht erzählen. Er versteht das auch so.»