Simone Biles (24) ist die beste Turnerin der Welt – doch dem Druck der Olympischen Spiele war die US-Amerikanerin nicht gewachsen: Sie gibt Forfait für mehrere Wettkämpfe – mit Verweis auf ihre mentale Gesundheit.
Naomi Osaka (23) gehört zu den besten Tennisspielerinnen der Welt – an den French Open verweigerte die Japanerin an den Pressekonferenzen jegliche Auskunft – mit Verweis auf ihre Angstzustände, Depressionen und ihre mentale Gesundheit. An den Olympischen Spielen scheidet sie früh aus.
Wie krank ist Spitzensport? Was läuft schief, wenn selbst die Weltbesten am Druck zerbrechen und psychisch krank werden?
Marc Risch, Chefarzt des Clinicum Alpinum, einer Fachklinik, die sich auch auf Sportpsychiatrie spezialisiert hat, sagt: «Der öffentliche Druck auf Spitzensportler war noch nie grösser als jetzt.»
Schuld ist ein toxischer Cocktail
Schuld daran ist gemäss dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie auch der raue Ton in den sozialen Medien: «Die Rohheit dessen, was in der Öffentlichkeit stehende Personen auszuhalten haben, ist kaum zu überbieten. Was wir nicht vergessen dürfen: Spitzensportler werden zudem oft auch Opfer von Bedrohung und Stalking.»
Das zeigen auch die Beispiele Osaka und Biles: In Japan werfen Kommentatoren Osaka nach ihrer Niederlage vor, sie sei es nicht wert gewesen, das olympische Feuer zu entfachen. Auch Biles muss sich vieles anhören: mangelnde Loyalität, ja sogar Landesverrat.
Das Stellenprofil eines Spitzensportlers ist unerfüllbar
Doch das ist nicht alles: Auch die Erwartungen von Sponsoren sind enorm. Risch sagt: «Seien wir ehrlich – ein Sponsor will Helden.» Schwäche hat da keinen Platz. Nicht zuletzt kommt der Druck, den Trainer und Sportverbände aufbauen. Und teilweise unmenschliche, in manchen Fällen sogar missbräuchliche Trainingsmethoden.
Ein toxischer Cocktail, sagt Risch. Das Stellenprofil eines Spitzensportlers laute heute: «Befähigt zu körperlichen, seelischen und kommunikativen Höchstleistungen, maximal leidensbereit und 24/7 verfügbar.» Rischs Fazit: Unerfüllbar.
Ariella Kaeslin (33) kennt das alles aus eigener Erfahrung. Die zwanzigfache Kunstturn-Schweizer-Meisterin und mehrfache EM- und WM-Medaillengewinnerin hat sich 2012 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere vom Spitzensport zurückgezogen – und in ihrem Buch «Leiden im Licht» vier Jahre später über ihre Erschöpfungsdepression und den Psychoterror geschrieben, dem sie seitens ihres damaligen Trainers ausgesetzt war.
Simone Biles sei einfach eine 24-jährige Frau mit einem grossen Talent, «von der aber eine riesige Nation mehrere Goldmedaillen erwartet», so Käslin. Verband, Team, millionenschwere Sponsoren, ja die gesamten USA erwarten etwas. «Dem kann eigentlich gar niemand standhalten.»
Man warnte Kaeslin davor, sich zu exponieren
Trotzdem: Biles’ öffentlicher Rückzug mit Verweis auf die eigene psychische Gesundheit ist für sie eine positive Entwicklung. Kaeslin selbst sei damals noch auf immensen Widerstand gestossen: «Diverse Leute haben mir gesagt, meine Karriere sei beendet, ich würde immer nur noch als ‹Psycho› angesehen, wenn ich mich öffentlich über meine Erschöpfungsdepression äussere.»
Kaeslin ist deshalb froh, wenn sich immer mehr Sportler – auch diverse Schweizer wie etwa Tennisspielerin Timea Bacsinszky (32) oder Orientierungsläufer Florian Schneider (28) – öffentlich über ihre psychischen Erkrankungen äussern. So werde die Stigmatisierung in der «normalen» Bevölkerung gebrochen. Denn rund ein Viertel der Bevölkerung leidet in seiner Lebenszeit an einer psychischen Erkrankung.
Auch Andres Schneeberger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Sportpsychiatrie und Psychotherapie, begrüsst die neue Offenheit: «Tragische Ereignisse wie der Suizid von Robert Enke haben dazu geführt, dass die Thematik nicht mehr so stark verheimlicht und mehr darüber geredet wird.» So sei etwa das junge Fach der Sportpsychiatrie und -psychotherapie entstanden und habe sich in einigen Ländern inklusive der Schweiz etabliert.
Für Ariella Kaeslin sollten wir alle eines aus den Fällen Biles und Osaka lernen: «Eine Depression kann jeden treffen – Spitzensportler genauso wie alle anderen. Wir müssen als Mitmenschen, als Zuschauer und als Sportbegeisterte lernen, achtsam mit unseren Mitmenschen und mit unseren Idolen umzugehen.»
Die 32. Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Alle Infos zur Eröffnung, Übertragung, Wettkampfterminen, Disziplinen, Neuerungen, Austragungsstätten und Maskottchen erfahren Sie in der grossen Übersicht.
Die 32. Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Alle Infos zur Eröffnung, Übertragung, Wettkampfterminen, Disziplinen, Neuerungen, Austragungsstätten und Maskottchen erfahren Sie in der grossen Übersicht.